Dienstag, 25. September 2007

Das Oktobermärchen nach dem Sommermärchen (Teil II)

Wie ich Lukas Podolski beim Simsen im Bett erwischte, Oliver Neuville mich traurig ansah, Franz Beckenbauer den Weg erklärt haben wollte und nicht neben mir auf der Toilette stand…

Michael Ballack, Tim Borowski, Philipp Lahm – alle sitzen mit hängenden Köpfen und Tränen in den Augen in der Kabine des Dortmunder Westfalenstadions. „4.Juli 2006 – Halbfinale Deutschland-Italien, Dortmund“ wird eingeblendet. Und ich gehöre zu den ersten Menschen, die sich das angucken dürfen. Ok, die Nationalspieler haben den Film bereits gesehen, der lockige Mann vom „Kinowelt Filmverleih“, dessen Name mir partout nicht einfällt, wird ihn seiner Frau gezeigt haben, und deshalb bin ich nicht der allererste, der in den Sommer 2006 zurückversetzt wird.

Aber trotzdem macht sich in mir eine gewisse Pioniersstimmung breit. Genügsam versinke ich im großzügigen Kinosessel und freue mich darüber, dass niemand von hinten mit Popcorn wirft, weil man das erstens auf Filmpremieren bestimmt nicht tut, es zweitens kein Popcorn gibt und ich drittens bekanntlich in der letzten Reihe sitze.

Über den exakten Ablauf und Inhalt des Films werde ich an dieser Stelle nicht allzu viele Worte verlieren, da ihn die meisten sicherlich kennen und die ganze Nacherzählerei hier etwas zu zäh werden würde.
Die Stimmung im Saal ist indes super. Jedes rhetorische Eigentor von Lukas Podolski wird mit großem Gelächter gewürdigt, bei jedem Tor der deutschen Mannschaft bricht fanmeilenartiger Jubel aus und Szenen wie Jens Lehmanns Frage an die Kanzlerin, was für einen Anreiz es denn für ihn gebe, nach Deutschland zurückzukehren, erhalten viel Beifall.

Man lernt die Menschen unter dem Trikot mit dem Bundesadler kennen und kommt zu der Ansicht, dass sie eigentlich nichts von uns unterscheidet. Viele Kritiker haben dem Film daher Oberflächlichkeit vorgeworfen und einiges verliere dadurch seinen Zauber. So hat Jürgen Klinsmann in seinen Ansprachen vor und während des Spiels nicht wirklich Wunderdinge vollbracht, sondern lediglich auf altbewährte Mittel der Motivation zurückgegriffen.

Aber wenn Poldi mit Chipstüten und Handy wie ein kleiner Junge im Bett liegt, Torsten Frings wie ein Siebtklässler auf der Klassenfahrt zu spät zum Gespräch mit der Kanzlerin erscheint und Miroslav Klose sich in hölzernem Englisch durch seltsame Fragen seiner Friseuse mogelt, dann hat das etwas Faszinierendes und Komisches an sich.

Genau das fängt Sönke Wortmann so ein, wie es noch nie jemand getan hat und deswegen bin ich in meinem roten Kinosessel am 3.10.06 hin und weg. Wer hervorragende Schauspieler sehen will, ist bei „Deutschland. Ein Sommermärchen“ gewiss falsch und wer eine Dokumentation mit großem Anspruch erwartet, kann sich lieber dienstags was von Guido Knopp ansehen. Dies scheint einigen Filmkritiker nicht klar gewesen zu sein, weshalb sie selbst die Darstellung eines Ereignisses, das den neu gewonnenen Optimismus und die Freude am Sommermärchen zeigen soll, in Pessimisten-Manier auseinander nehmen mussten.

Doch nun zurück ins Funkhaus zu Manni Breuckmann…nee stop, der spielt im Film zwar auch eine Rolle, aber ich wollte eigentlich sagen: Zurück ins Theater am Potsdamer Platz.

Dort hat der Film nämlich sein Ende erreicht. Happy End, alle sind glücklich - so auch ich - und Sönke Wortmann wird mit minutenlangen stehenden Ovationen gewürdigt, die mit Sicherheit auch den Hauptdarstellern vor der Kamera gelten.
Derweil frage ich mich, wie das Publikum eigentlich auf einen grottenschlechten Film reagieren würde. Gehen dann alle vor dem Ende nach Hause und boykottieren die After-Show-Party?

Bevor die an diesem Abend beginnt, wird jedoch erst die gesamte Nationalmannschaft auf die Bühne beordert und muss sich den Fragen von Anne Will stellen. Selbst DFB-Pensionär Oliver Kahn ist mit dabei, eigentlich fehlt nur Jürgen Klinsmann, der sich – natürlich – am Huntington Beach aufhält. Die Diskussionen darüber sind alter Tobak und eigentlich wird kaum ein Wort über den Ex-Teamchef verloren.

Die Zuschauer strömen aus dem Saal, wahrscheinlich um am Büffet ganz vorne zu stehen und bloß keins der köstlichen Canapés zu verpassen. Canapés sind mir zu dem Zeitpunkt (noch) schnuppe und ich entschließe mich, die Gunst der Stunde zu nutzen und auf Autogrammjagd zu gehen. Glücklicherweise verziehen sich die Spieler zuerst in eine kleine Privatlounge, die gegenüber der Tür liegt, durch die ich den Theatersaal verlassen habe. Und so ziehen sie wie an einer Perlenschnur aufgereiht alle an mir vorbei: Lehmann, Mertesacker, Metzelder, Lahm, Jansen, Borowski, Hildebrand, Neuville…und der Rest des Haufens.

Timo Hildebrand nimmt sich nach ein paar „Timo, Timo“-Rufen vier Sekunden Zeit, um seinen Namen auf den Rücken meines dafür designierten Trikots zu kritzeln. Mit mir befindet sich noch eine andere Gewinnerin des ARD-Gewinnspiels auf der Jagd und gemeinsam versuchen wir nacheinander einen der Spieler zu erwischen. Doch wie redet man Fußballer eigentlich an?

Ehrfürchtig: „Herr Ballack, könnten Sie sich erbarmen mir ein Autogramm zu geben?“
Freundschaftlich: „Michael, hätten Sie kurz Zeit für ein Autogramm?“
Oder wie ein Schalke-Fan aus GE-Buer: „Eh, Du mit der 13, kannse mir mal wat auf dat Trikot schreiben tun?“
Ich entscheide mich für Variante zwei. Wie in der Fankurve muss man sich ja nicht gleich benehmen, aber bei einem Menschen, den man vor dem Fernseher nur mit „der Ballack“ anspricht, geht die Anrede per Vornamen etwas leichter über die Lippen und „Herr Ballack“ hört sich auch irgendwie komisch an.

Ich erwische außer dem Timo noch Marcell Jansen, Andi Köpke und Jogi Löw für ein Autogramm. Oliver Neuville und Michael Ballack posieren für ein Foto mit mir. Der kleine Olli sieht dabei wie immer so traurig aus und ich hoffe nur, dass ich nicht der Grund dafür bin. Michael Ballack ist gerade in ein Gespräch vertieft, als ich ihn mit meiner Leidensgenossin (obwohl Glücksgenossin eigentlich treffender ist) um einen kurzen Moment für ein Foto bitte. Marcell Jansen hatte sich am Wochenende zuvor im Spiel gegen Werder Bremen am Knie verletzt, also frage ich ihn höflich nach seinem Befinden, woraufhin er mir versichert, dass erst die Arthroskopie Gewissheit bringe.

Unten auf der Hauptfeier komme ich mir dann in meinem Trikot und mit meinem verschwitzten Gesicht fast Fehl am Platze vor, so sehr wimmelt es von Fußball, TV- und Politikprominenz. Auf dem Weg zur Getränkebar erblicke ich vor mir die unverkennbare Mähne von Günter Netzer, auf dem Weg zurück läuft mir Günther Jauch über den Weg. Ich nehme meinen Mut zusammen und bitte auch ihn, ein Foto mit mir machen zu lassen. Denn Günther Jauch ist definitiv eines meiner Idole und ich habe nicht viele davon.
"Ja, keen Problem", kommt der Berliner bei ihm raus. "Eenfach einmal knipsen". Kurz gelächelt und weiter geht’s. Wenn ich ihn in Zukunft als Kandidat bei „Wer wird Millionär?“ darauf anspreche, dass wir beide uns bereits kennen, wird er sich wohl kaum noch an mich erinnern können.

Teilweise komme ich mir vor wie im Traum und denke mir mehrfach: ‚Womit hast Du solch ein Glück überhaupt verdient?'

Um mich ein wenig abzukühlen, schlürfe ich eine Fanta nach der anderen. Den Champagner lasse ich sein, man muss ja nicht übertreiben. Vom Pinkeln kann ich leider nichts Aufregendes berichten. Ich stand am Pissoir weder neben Franz Beckenbauer, noch musste ich Philipp Lahm hochheben, weil der nicht ans Waschbecken kam. Aber das wäre jetzt auch zu viel des Guten gewesen.
Den „Kaiser“ traf ich dann aber etwas später auf der Treppe, als er gerade gehen wollte. Routinemäßig lächele ich auch mit ihm schnell in die Kamera. Dann fragt er mich, wo lang es denn nach draußen ginge. „Einfach da die Treppe hoch, dann rechts“, kläre ich ihn auf. Er scheint’s gefunden zu haben.

Erschöpft von der ewigen Suche nach potentiellen Autogrammspendern und Fotopartnern, und der ständigen Behutsamkeit, um bloß nicht aufzufallen, lasse ich mich um 1 Uhr nachts auf einem Barhocker nieder. Eine Frau geht mit einem Tablett herum und ich schnappe mir schnell noch ein „Schnittchen“. Schließlich hatte ich ja seit 16 Uhr oder so nichts mehr gegessen. Beim erneuten Blick auf die Uhr wird mir dann klar, dass in 45 Minuten meine letzte S-Bahn nach Köpenick fährt, wo ich während meines Berlin-Aufenthaltes untergekommen bin. Deshalb heißt es schnell Abschied nehmen.

Müde trotte ich hinaus auf den roten Teppich, dorthin „wo alles begann“. Eine nette Hostess drückt mir noch eine kleine Tüte als Andenken in die Hand, in der sich kleine Souvenirs wie z.B. eine original Rasenmischung des echten WM-Untergrundes oder ein kleines Deutschland-Fähnchen befinden. Der WM-Rasen ist übrigens im Garten direkt neben dem Originalstück des Rasens vom Bökelberg vom Aufstieg 2001 eingesät worden. Tatsächlich stehen um diese Uhrzeit immer noch ein paar Mitglieder der Groupie-Fraktion am Absperrgitter.

Auf dem Weg zum Bahnhof komme ich am Bus des Nationalteams vorbei, den man sich von innen angucken kann. Noch habe ich genug Zeit und entschließe mich einen kurzen Blick hinein zu werfen. Der Mann an der Tür weist mich jedoch trotz meines grünen Bändchens ums Handgelenk ab. Dafür bräuchte ich „ein rotes Bändchen“. Jäh werde ich in die Realität meines alltäglichen Fandaseins zurückgeholt, was nun wirklich nicht so schlimm ist.

Während der Fahrt mit der S-Bahn bin ich ganz versunken in Gedanken an diesen unvergesslichen Abend. Hatte ich das wirklich gerade erlebt? Ich? Jannik Sorgatz, 17 Jahre alt, ein ganz normaler Fußball-Verrückter alleine in Berlin…Nicht wirklich, oder?
Obwohl, woher kommen dann die Bilder auf meiner Digitalkamera und wer hat mir mit einem Edding nicht zu entschlüsselnde Schriftzeichen auf den Rücken gemalt?

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