Ein Spiel dauert Gott sei Dank nicht immer neunzig Minuten, sondern meist einen Tick länger. Und so hat ein schwaches Spiel in letzter Sekunde die Gelegenheit, mit einer einzigen Aktion zum großen Fingerzeig in Richtung Bundesliga zu mutieren. Auch wenn man eigentlich sauer sein will, wird man am Ende vom Jubelsturm einfach umgeweht.
Als ich fünfzehn Minuten vor dem Ende mit auf die Hände gestütztem Kinn und resignierendem Blick das Geschehen auf dem Platz verfolge, droht der letzte Ferientag meiner Schullaufbahn zum enttäuschenden Sonntagsausflug zu werden. Das „Geschehen auf dem Platz“ hat seinen Namen bis zu diesem Zeitpunkt nämlich kaum verdient.
Gladbach bemüht sich redlich gegen elf Koblenzer, die mit dem einen Punkt allem Anschein nach – wie man so schön sagt – „ganz gut leben können“. Ihr einziger Stürmer Daham hat die Mittellinie seit Minuten so oft überquert wie ich den Ärmelkanal in einem Schlauchboot (es dürfte nicht vonnöten sein, hier die genaue Anzahl zu benennen). Nur leider entspricht das Ergebnis auf der Anzeigetafel ziemlich genau derselben Größenordnung – die Null schwingt sich auf zur Zahl des Tages im Borussia-Park.
Auf den anderen Plätzen geht es derweil etwas bunter zu. Paderborn schießt St. Pauli mit 4:1 nach Hause und der trotzige Satz „wär’n wir doch bloß nach Paderborn gefahren“ ist eigentlich schon fest als Überschrift für dieses Kapitel des Abenteuers Zweite Liga eingeplant.
Bereits in Hälfte eins hatten die Ereignisse auf dem Videoscreen für mehr Unterhaltung und Abwechslung gesorgt als das meist trübselige Schauspiel unten auf dem Feld. In der fünften Minute waren 38830 zahlende Zuschauer erstmals, und für lange Zeit letztmals, in Hochstimmung versetzt worden – Offenbach führte gegen Köln mit 1:0.
Zwei Weitschüsse und ein Heber von Rösler, die allesamt das Tor verfehlten, und ein sanfter Kopfball von Friend mitten in die Arme von Koblenz’ Keeper Eilhoff klingen zunächst vielleicht nach zufrieden stellender Quantität, was die Torchancen im ersten Durchgang angeht. Doch ich kann beruhigen – der Eindruck täuscht. Forkel ist dem ersten Tor noch vergleichsweise nah, als er durchaus aussichtsreich vor Heimeroth auftaucht. Sein Schuss mit dem schwachen Linken landet jedoch dankbar in dessen Armen.
Der Stadionsprecher nimmt’s in der Halbzeit mit Humor und gibt sich verwundert, als ihm über den Stecker im Ohr angekündigt wird, dass die Highlights nun der nächste Programmpunkt der Pausenberieselung seien. Sarkasmus, Klobesuche, Bratwurstexzesse – der Fan weiß sich Gott sei Dank aus der gähnenden Langeweile zu helfen. Die überflüssigen Pfiffe, mit dem das Publikum die Mannschaft in die Pause begleitet hatte, spiegeln das Niveau ganz gut wieder. Es gab einfach keins und wenn, dann wandelte es irgendwo zwischen „konnte nicht gegen wollte nicht“, Mauerversuchen und chronischer Ideenlosigkeit.
Die Berichterstattung über die zweite Halbzeit bei „Hattrick“ im DSF untermauert den Eindruck, dass Koblenz die südliche Spielhälfte im Borussia-Park nach der Pause nur selten bis gar nicht verlässt. Und so bietet sich einmal mehr die Gelegenheit, über den Sinn dieses Spiels zu philosophieren. Wer hat eigentlich den genialen Einfall gehabt, dass Fußballspiele torlos enden können?
Über die Existenz des Unentschiedens muss man sich ja gar nicht mehr beschweren. Unsere deutsche Nüchternheit und unser sozial geprägtes Denken haben sich längst damit abgefunden, befürworten es sogar. Warum sollten wir jedes Spiel im Elfmeterschießen entscheiden? Übung benötigen wir darin ohnehin nicht mehr.
Allein die Amerikaner werden von dieser Eigenheit des Fußballs bis heute davon abgehalten, diesem Sport ein größeres Maß an Sympathie entgegenzubringen und ihn aus dem Randsportartendasein zu befördern. Aber damit haben wir schließlich nichts am Hut. Es sei denn wir gucken Eishockey oder Basketball – seit jeher nordamerikanische Domänen. Denn dort sind Unentschieden so verpönt wie Rülpsen in der Kirche. Weshalb man die Spieler gerne auch 168 Minuten auf dem Feld bzw. Eis lässt, bis dann endlich eine Entscheidung gefallen und der Energieriegelhaushalt einer ganzen Großstadt geplündert worden ist.
Handballer dagegen kennen das Gefühl, nach dem Spiel weder als Sieger noch als Verlierer vom Platz zu gehen, ebenso wie Hockeyspieler. Doch im Prinzip geht es dabei nie gänzlich torlos zu. Unterm Strich ist Fußball also eine der wenigen Sportarten, die man neunzig Minuten verfolgen kann, ohne dabei seinen Standort (egal ob stehend oder sitzend) merklich zu verändern, weil praktisch nichts passiert.
Um der dritten Erscheinung dieses sportlichen Phänomens, dem 0:0, einen Riegel vorzuschieben, bringt Jos Luhukay nach einer knappen Stunde Jungspund Marko Marin in die Partie. Ndjeng muss weichen, was den gelangweilten Beobachter um einiges weniger überrascht als die Tatsache, dass er überhaupt von Beginn an auf dem Platz stand. Ich muss zugeben, dass es sich aus stilistischen Gründen ab und zu als nützlich erweist, ein paar Torchancen auszulassen, um dadurch auf ihre Seltenheit hinzuweisen. Doch das ist heute bis auf wenige Ausnahmen nicht einmal nötig.
Kurz bevor Marin eingewechselt wird, hat Neuville eine der besten Gladbacher Gelegenheiten bis zu diesem Zeitpunkt. Sein halb selbst abgegebener, halb abgefälschter Schuss streift Zentimeter am rechten Pfosten vorbei. Auch Touma nähert sich dem 1:0 erst aus der Distanz, dann mit dem Kopf. Marins Hereinnahme erweist sich als guter Schachzug, denn der quirlige Mittelfeldmann wirbelt die Koblenzer Abwehr mit seinen Dribblings wenigstens einige Male durcheinander.
Während in der Hinrunde scheinbar klare Siege, die durch blöde Gegentreffer doch noch knapp ausfielen, zu den Gladbacher Lieblingsszenarien zählten (es sei an Osnabrück, Aue, Augsburg oder Aachen erinnert), bietet sich inzwischen vermehrt ein anderes Bild, mit Vorliebe im eigenen Stadion. Zwar sind alle Gegner scheinbar heiß darauf, dem Favoriten ein Bein zu stellen. Nur bringen sie das selten zum Ausdruck, indem sie selbst ein Tor erzielen wollen, sondern rühren stattdessen kräftig Beton an. Und somit erinnert das Gladbacher Spiel ein wenig an Handball: Zehn Koblenzer umzingeln ihr Tor im Halbkreis und stemmen sich Angriff um Angriff tapfer entgegen. Meist schaffen nur lange Bälle und Flanken aus dem Halbfeld etwas Abhilfe.
Ständig schwankt die eigene Stimmung zwischen der Einsicht, dass es Leichteres gibt, als neunzig Minuten lang gegen eine Mauer anzulaufen, und den Zweifeln, ob der Tabellenführer der zweiten Liga nicht irgendwann irgendwie irgendein probates Mittel dagegen finden müsste. Meine Mutter beschwört neben mir „einen unberechtigten Elfmeter, meinetwegen auch ein Eigentor“ herbei. Ich selbst wünsche mir „nach langer Zeit mal wieder einen glücklichen Sieg in der Nachspielzeit“.
Nachdem die Borussia kurz vor Schluss selbst drei halbwegs hochkarätige Chancen nicht zum erlösenden 1:0 verwerten kann, verkommen unsere Prophezeiungen schon zu reinen Wunschgedanken und purer Illusion. Rösler setzt den Ball aus kurzer Distanz knapp über den Kasten. Ähnlich hält er es danach mit einem Kopfball nach einer Hereingabe von Marin. Und auch Roel Brouwers kann eine weitere Vorlage des agilen 19-jährigen nicht im Tor unterbringen. Richter klärt in letzter Sekunde vor dem einköpfbereiten Niederländer.
Das torlose Remis nimmt langsam schärfere Konturen an. Meine Mutter verfrachtet ihre Brille schon einmal resignierend im Rucksack, als wolle sie sofort aufbrechen. Die drei Männer vor uns setzen den Gedanken in die Tat um und verabschieden sich nach 89 Minuten und 17 Sekunden kopfschüttelnd aus dem Block, als hätte man sie heute mit der Aussicht auf ein aufregendes 5:3 ins Stadion gelockt und bitter enttäuscht. Im Nachhinein werden sie jedoch zu den wenigen Zuschauern gehören, die unglücklich nach Hause gefahren sind.
Der aufmerksame und konsequente Schiedsrichter Meyer benötigt fast seine ganze Hand, um die Nachspielzeit anzuzeigen – vier Minuten signalisiert er mit gestreckten Fingern den 38000, die weiterhin sehnsüchtig auf ein Tor warten. Koblenz würde sich im Falle eines Falles selbst bestrafen, denn allein ihr überflüssiges Zeitschinden und langwierige Simulationseinlagen können Herrn Meyer zu dieser großzügigen Entscheidung getrieben haben.
Voigt legt den Ball an der linken Seitenauslinie noch einmal zurück auf Marin, der Forkel aussteigen lässt und das Leder erneut lang und hoch in den Strafraum bringt. Es ist der geschätzte 87. Versuch dieser Art, ein Tor zu erzielen. Warum sollte es dann ausgerechnet in der zweiten Minuten der Nachspielzeit klappen?
Die Flanke senkt sich, ein Kopf ist dran, einen Wimpernschlag später sehe ich nur noch das Netz wackeln und höre einen tosenden Jubelsturm aufbranden. Die Elf auf dem Platz, der gesamte Kader, das ganze Team versammelt sich in einer Jubeltraube an der Ersatzbank. Jos Luhukay landet vor lauter Freude auf dem Hosenboden. Marko Marin muss seine achte Torvorlage der Saison beinahe mit dem Erstickungstod bezahlen.
Eigentlich verraten mir das im Nachhinein nur die Fernsehbilder. Ich selbst befinde mich zum selben Zeitpunkt in einem ähnlichen Pulk. Wie Tentakeln greifen aus allen Richtungen Arme nach mir. Meine eigenen tun dasselbe und vor lauter platztechnischer Unordnung landet mein Unterarm im Gesicht meiner Mutter, die nur knapp einem Nasenbeinbruch entgeht. Sie hätte nach eigenem Bekunden gut damit leben können.
Neunzig Minuten Ideenlosigkeit, Tristesse, Krampf und Kampf sind vergessen. Ein einziges Tor macht ein harmloses Spiel zum Heilsbringer einer ganzen Saison. Drei Punkten wird im Rausch des Augenblicks die Wichtigkeit eines ganzes Dutzends verliehen. Dabei gewinnt Gladbach am Ende, ohne selbst überhaupt ein Tor geschossen zu haben. Der Kopf, der den Ball ins Tor bugsierte, gehörte nämlich zum Koblenzer Bajic. Ausgerechnet Bajic – im Hinspiel hatte er mit seinem Platzverweis den Grundstein zum späteren Gladbach Kantersieg gelegt. Es gibt Spieler, die ziehen das Unglück irgendwie magisch an.
Unsere Wünsche, zunächst mit einem Unterton voller Hoffnungslosigkeit ausgesprochen, waren erfüllt worden. Ein Eigentor in der 92. Minute versetzt den Borussia-Park in letzter Sekunde in kollektiven Freudentaumel. Der Vorsprung auf Platz vier ist auf acht Punkte angewachsen. Es sind so viele wie seit dem 16. Spieltag nicht mehr.
Eine weitere Eigenheit des Fußballs ermöglicht nach einer schwierigen Partie ohne Ideen im Angriff und ohne Probleme in der Abwehr die optimistischsten Prophezeiungen: „Wer solche Spiele gewinnt, der steigt am Ende auf“. Denn nicht nur torlose Unentschieden findet man scheinbar ausschließlich beim Fußball, sondern auch etwas anderes, das diesem Sport einen Teil seiner einzigartigen Anziehungskraft verleiht: Die Nachspielzeit.
Sonntag, 30. März 2008
Fohlengeflüster (21):
Geduldsspiel ins Glück
Eingestellt von Jannik um 22:24
Labels: Gladbach, Zweite Bundesliga
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