Das Thema Besinnlichkeit in der Adventszeit ist im Zuge der beiden Auswärtsspiele in Wehen und Freiburg eigentlich ausreichend durchgekaut worden. Erst war die Zeit noch nicht reif. Dann wollte man getrost und besinnlich ins letzte Spiel des Jahres gehen. Und am Ende ließ sie sich nicht mehr blicken, die Besinnlichkeit. Obwohl die Winterpause doch erst jetzt begonnen hat.
In einer Polizeikolonne von A nach B kutschiert werden, begleitet von einer ganzen Hundertschaft – das ist eigentlich einer dieser schier unerfüllbaren und ebenso marginalen Wünsche eines jeden Normalsterblichen. Dabei gehört dieses VIP-Erlebnis inzwischen zum Standardprogramm einer jeden Auswärtsfahrt mit dem persönlichen Verein des Vertrauens. Selbst in Paderborn, wo sich im fernen Ostwestfalen Fuchs und Hase gute Nacht sagen, gibt es Leute, denen ihr Klub ein paar Euro und einen Tagesausflug an den Niederrhein wert ist.
Sei es als Reisender oder als Gastgeber – solch ein Spieltag dominiert das jeweilige Tagesgeschehen. Neunzig Minuten Fußball, eine Viertelstunde Pause und ein paar Sekunden Nachspielzeit stellen da einzig und allein den unmittelbaren Höhepunkt. Doch sowohl vorher als auch nachher zeigen diese anscheinend banalen anderthalb Stunden ihre langfristige Wirkung.
Und so pocht das Adrenalin auch noch eine Halbzeit nach Abpfiff gegen die Außenwände meiner Arterien, als eine dieser angesprochenen Polizeikolonnen hinterm Bahnhof an uns vorbeifährt. Grün-weiß, Bus, grün-weiß, Bus, grün-weiß. „Nur für Gästefans“ steht dort in LED-Leuchten, wo man normalerweise von illustren Mönchengladbacher Stadtteilen und Nachbarorten wie Rheindahlen, Windberg oder Heimer liest. „Gästefans“ sind in diesem Fall mehrere Hundert Fußball-Provinzler in blau-schwarzen Trikots, die Glück haben, dass wir von einer Glasscheibe und einer Hundertschaft getrennt werden. Mehr als ein böser Blick ist da leider nicht drin. Aber ich bin ja ein friedlicher Mensch. Hätte mir vorher jemand prophezeit, dass das derart unspektakulär anmutende Spiel gegen den SC Paderborn meinen Blutkreislauf so anregen sollte, ich hätte ihn „Kölner“ genannt.
Schon das Wetter präsentiert sich an diesem Sonntag von seiner kuriosen Seite. Der Boden friert. Der Fan denkt, er müsse frieren, weshalb er den Zwiebellook gewählt hat. Und dann knallt die Sonne auf einmal vom Himmel wie an guten alten Sommertagen in El Arenal. Mit dem feinen Unterschied, dass die Sangria warm ist und zu dieser Jahreszeit Glühwein heißt.
Von der ersten Hälfte des Spiels kann ein Radiozuhörer mehr berichten als ich. Die Sonne linst so flach in den Borussia-Park hinein, dass das in Schatten gehüllte Grün wie im Dunst Bengalischer Feuer erscheint. Allein der Ball bietet einen klar erkennbaren Anhaltspunkt, wo sich gerade etwas Nennenswertes abspielen könnte. Ich habe mir sagen lassen, dass sich nicht viel ereignet haben soll.
Dabei fällt mir auf, dass die Borussia uns jahrelang verarscht hat. Um 14 Uhr steht die Sonne genau im (vermeintlichen) Süden. Eigentlich hätte sie da schon zwei Stunden früher stehen müssen. Demnach ist das Stadion nach Nordosten gedreht. Block 16 zeigt also nicht maßgerecht Richtung Nordpol, sondern gen St. Petersburg. Google Earth liefert den Beweis. Skandal!
Der Stadionsprecher kommt in der Halbzeit einzig und allein seiner Chronistenpflicht nach, indem er sich abmüht, ein paar zeigenswerte „Highlights“ aufzupicken. Das bisher einzige Highlight der Partie – neben einer Hand voll Paderborner Torschüssen, die allesamt in Heimeroths Armen landen – verabschiedet sich ziemlich zügig nach der Pause. Wie eine Decke zieht der Schatten im Uhrzeigersinn über die Tribüne, so dass die Nordkurve bald in Dunkelheit gehüllt ist und das Mallorca-Wetter der kalten Realität des Dezembers weicht. Klingt alles etwas langweilig und schnulzig? Sorry, mehr gibt es bis dahin nicht zu erzählen.
Aber Fußball wäre nicht Fußball, Gladbach wäre nicht Gladbach, wenn dieser Zustand wirklich neunzig Minuten lang anhält. Und herrscht tatsächlich einmal während eines ganzen Spiels Tristesse, steigt die Borussia in der Regel am Saisonende ab. Da dies in dieser Saison mit einer vergleichsweise geringen Wahrscheinlichkeit eintreten wird, taut die Partie bald danach auf.
Soumaila Coulibaly, nach 45 Minuten für den schwachen Marin eingewechselt, vernichtet alle Sorgen Gott sei Dank in der 54.Minute. Der Mann aus Mali hat einen Fuß aus Eisen, wenn nicht sogar aus Titan. Als er einen Freistoß aus 18 Metern mit links in die Maschen hämmert – ach quatsch, einbetoniert – ist das Eis gebrochen. Der Reporter vom DSF versichert abends vorsichtshalber, dass das Netz unbeschadet Weihnachten feiern kann. Der Borussia-Park „döpt“ zufrieden vor sich hin. Friede, Freude, Herbstmeisterlaune so weit das Auge reicht.
Nur vier Minuten später ist alles dahin. Das gesamte Stadion hat sich zwar wieder erhoben. Diesmal jedoch aus einem anderen Grund: Rob Friend hatte eine Flanke von Sascha Rösler verwerten wollen und war dabei mit dem Paderborner Keeper Kruse zusammengeprallt. So weit, so gut. Der Torwart liegt irgendwo am Boden, angeblich bewusstlos. Sehen kann man es nicht, denn um ihn herum hat sich ein Rudel gebildet, wie es im Lehrbuch für Rudelbildung steht. Schiedsrichter Fleischer nestelt auffällig, fast bedrohlich an seiner Brusttasche. Eigentlich halb so schlimm, aber Friend ist zu diesem Zeitpunkt schon verwarnt. Jeder ahnt, was kommen wird. Niemand will es wahrhaben. Der Oberrang geht fast über die Rehling. Der Unterrang möchte am liebsten den Platz stürmen. Alle wollen dem Mann in Neongelb die rote Karte entreißen und lassen ihrem Beschützerinstinkt freien Lauf. Doch das Unheil nimmt seinen Lauf. Die Karte wird gezückt. Gladbach ist nur noch zu zehnt.
Nüchtern und objektiv betrachtet, ist das für Herrn Fleischer gelbwürdige Foul folgendermaßen zu bewerten: Friend befindet sich im Flug, als er den Paderborner Keeper erblickt, der Zusammenprall nicht mehr zu verhindern. Von einem ausgefahrenen Ellbogen ist nichts zu sehen. Letztendlich waren die 95 Kilo des Kanadiers schlichtweg ein Zentner zu viel für den schmächtigen Jungen im Tor. Unterdessen erfährt der eine jener Wundergenesungen, wie sie seit geraumer Zeit an jedem Wochenende auf den Fußballplätzen dieser Welt zu bewundern sind. Die einen mögen dies eine Unsitte nennen, andere die Paderborner Medizinabteilung in den Himmel loben. Die Nordkurve jedenfalls quittiert die vermeintliche Wunderheilung mit Münzen und Feuerzeugen, die im hohen Bogen in den Strafraum segeln. Der eben noch klinisch tote Kruse wird vom Rekonvaleszenten zum Denunzianten und verpetzt das Publikum, indem er dem Referee eine Stichprobe der Feuerzeuge zur Inspektion vorbei bringt. Zwei unfeine Gesten treffen aufeinander: Die wurfwütige Nordkurve auf der einen, der sterbende Feuerzeugsammler auf der anderen Seite.
Als Antwort weht dem folgenden Abstoß das wohl lauteste (Achtung, Zensur!) „Gesäßöffnung, Masturbant, Sohn einer Prostituierten“ aller Zeiten hinterher. Woraufhin Kruse hämisch in die Hände klatscht und die Stimmung nur noch weiter anheizt. In der Folgezeit wird auch etwas Fußball gespielt. Jos Luhukay reagiert auf den Platzverweis mit der Einwechslung von Colautti für Neuville, der ebenfalls mit gelb vorbelastet ist.
Eine Viertelstunde vor dem Ende kommt es, wie es kommen muss: Ein unberechtigter Freistoß der Ostwestfalen findet den Kopf von Djurisic. Der Ball schlägt im linken Eck zum Ausgleich ein. Der eigene Unmut verteilt sich daraufhin auf mehrere Schultern. Schiri Fleischer bekommt eine Ladung ab aufgrund der zweifelhaften Hinausstellung von Rob Friend. Die Borussia bekommt ihr Fett weg, weil ihr Auftritt an diesem Tag alles andere als eines Herbstmeisters würdig ist. Und Paderborn verdient gerechterweise den Rest.
Der Ausklang der Hinrunde scheint längst vergeigt, als der eingewechselte Van den Bergh von Fall zu Fall gebracht wird. Fleischer zögert wiederum nicht. Erneut blitzt die Rote Karte auf. Diesmal besteht allerdings keinerlei Zweifel.
In der Nachspielzeit lässt Roberto Colautti das Adrenalin der Allgemeinheit noch einmal kräftig gegen die Arterienwände pochen. Rösler will eine Flanke von Coulibaly per Fallrückzieher verwerten. Der Aufsetzer landet auf der Stirn des Israeli. Ein unverhofftes Happy End scheint für den Bruchteil einer Sekunde in Reichweite. Doch das Leder trudelt geduldig am linken Pfosten vorbei – ins Aus.
Kurz darauf bläst Herr Fleischer zum letzten Mal in diesem Jahr in seine Pfeife und setzt den Schlussstrich unter ein Fohlenjahr mit zwei Gesichtern. Nach dem Debakel in der ersten Jahreshälfte und dem holprigen Start im Unterhaus folgten Wochen und Monate der Glückseligkeit, die faktisch immer noch kein Ende gefunden haben.
Das letzte Spiel lief zwar nicht erfolgreich auf dem Spielberichtsbogen. Es hat jedoch noch einmal völlig unerwartet alles abgefordert von der lange geschundenen Borussenseele. Von wegen Sonntagsspaziergang. Trotzdem kann ich mich zurückhalten, als die Buskolonne mit den Anhängern aus Paderborn vorbeifährt. Schließlich geht Gladbach als seit 14 Spielen ungeschlagener Tabellenführer in die Rückrunde. Da ist ein aufmüpfiger Provinzklub aus Ostwestfalen relativ großzügig zu tolerieren. Denn wie hallte es nach dem Tête-à-tête von Friend und Kruse durchs weite Rund? „Wir steigen auf und ihr steigt ab, wir steigen auf und ihr steigt ab…“.
Das Blatt wendet sich schnell im Fußball. Ähnliches mussten wir uns zu Jahresbeginn monatelang anhören. Auch wenn Paderborn eigentlich nichts dafür kann. Wie gesagt, eigentlich…
Mittwoch, 19. Dezember 2007
Fohlengeflüster (12): Von Sangria, Feuerzeugen und Buskolonnen
Eingestellt von Jannik um 22:01
Labels: Gladbach, Zweite Bundesliga
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