Mittwoch, 19. März 2008

Fohlengeflüster (19):
Coetische Zustände

Das Fußballspiel ermöglicht seit jeher ausgiebige Forschungen über das menschliche Wesen. Was vor allen Dingen daran liegt, dass es trotz aller „entscheidend is auf’m Platz“-Theorien wohl gar kein Spiel ist. Aber: Ein Tor, kein Gegentor, drei Punkte – unterm Strich zählt dennoch das Spielerische. Der Rest ist einzig und allein für unser Gemüt.

Die leidenschaftliche, von Zeit zu Zeit mit Zügen von Wahnsinn behaftete Ehe, die man irgendwann, an einem selten genau festzumachenden Zeitpunkt, mit einem Fußballverein eingeht, besitzt zweifellos Züge von tiefem Patriotismus – nur eben auf Klubebene.

Man kauft sich einen Fahnenmast für den Garten, um die Raute im Wind wehen zu lassen. Man deckt sich mit Identifikation steigernden und zur Schau stellenden Artikeln ein – „Merchandising“ nennen das die Anglisten und Fußballmacher, die einen Verein als „Marke“ anpreisen. Man sorgt sich ferner um das Wohl des Vereins scheinbar mehr als um das seiner Kinder. Man singt inbrünstig das Vereinslied, die „Nationalhymne“. Und einige Hirnverbrannte lassen sich gar in Schlägereien und Straßenschlachten verwickeln, um mit Fäusten für den Verein des Herzens zu kämpfen (was genauso schwachsinnig und zu verurteilen ist, wie der überzeugte Tod fürs Vaterland, in den sich beispielsweise an die 4000 Amerikaner seit dem Beginn des Irak-Krieges begeben haben).

Wenn zwei Einstellungen (von Ideologien will ich jetzt nicht sprechen) nicht nur positive, sondern auch negative Parallelen aufweisen, muss doch irgendetwas dran sein, oder? Mit dem Unterschied, dass man hier analog von Coetismus sprechen müsste (coetus, lt. der Verein, nicht zu verwechseln mit „coitus“). Doch Coet (scheinbar eine Mischung aus Poet und Chaot) kann – genau wie Patriot – nur der sein, der nicht pauschal jeden anderen Klub zutiefst verachtet, sondern durchaus Sympathien für andere empfinden kann (wenn auch selbstverständlich nicht für alle).

Als ich mich am Sonntagvormittag mit meiner Mutter aufmache, um dem Verein unseres Herzens – seit 13 bzw. 35 Jahren – beim Spiel gegen St. Pauli die Ehre zu erweisen, sind wir unmissverständlich als Coeten zu erkennen (als vorbildliche, versteht sich). Seit dem Spiel in Osnabrück ruht das grün-weiße Doppeltrikot wieder auf meinen Schultern, meine Mutter fährt wie immer im schwarzen Dress. In unserem Garten weht zwar keine Fahne mit Borussenraute, aber als der Shuttlebus ein Haus passiert, in dessen Vorgarten gleich zwei davon im Wind wehen, äußern wir fast im selben Augenblick den Wunsch, zuhause auch so etwas zu errichten. Mein Vater wird begeistert sein. Die armen Tulpen und Orchideen.

Der Borussia-Park ist so gut gefüllt wie lange nicht mehr. Mehr als 48000, was vermutlich auf den verkehrs- und arbeitstechnisch günstigen Sonntag und den Beginn der Osterferien zurückzuführen ist. Nicht alle davon gehen als Coeten, als Fußball-Patrioten, durch. Aber was bringt es schon, sich darüber zu beschweren, dass die Hälfte der Tickets an Zuschauer geht, die sich ihre Stadionbesuche rauspicken, wie Rosinen aus einem Apfelstrudel und bereits zur Pause die Finger zum Pfeifen in den Mund nehmen, weil es noch nicht 3:0 steht?

Wenn nur die innigsten der Innigen ins Stadion pilgern und mehr grünes Plastik als menschliche Regung sich im weiten Rund bemerkbar macht, dann meckern wir schließlich auch. Dass die meisten Leute nicht verstanden haben, dass ihre Eintrittskarte zum Fußball keine Garantie auf ein Torfestival beinhaltet, ist nun mal unliebsame Tatsache.

Und ausgerechnet heute pickt sich die Borussia eines ihr schwerfälligeren Spiele raus. Voll und ganz nach der Devise „never change a winning team“ hatte Jos Luhukay dieselbe Elf auf den Platz geschickt, die in den letzten beiden Partien jeweils ein sicheres 2:0 eingefahren hatte.

St. Pauli lässt in Hälfte eins wenig von der Philosophie seines Trainers Stanislawski erkennen, der nach eigenen Angaben lieber das Risiko eingeht, 0:2 oder 0:3 zu verlieren, als 90 Minuten lang zu mauern und dann in der Nachspielzeit doch das Tor zu kassieren.
Ein lang und länger werdender Freistoß von Ndjeng aus dem Halbfeld ist Gladbachs einzige Gelegenheit in der Anfangsviertelstunde. Trotz weitestgehend sicher stehender Defensive schwindet damit die Hoffnung auf einen Sieg à la Augsburg relativ frühzeitig.

Das Team vom Millerntor sorgt nach 13 Minuten sogar beinahe für einen Paukenschlag. Schultz’ flache Hereingabe von links bahnt sich irgendwie ihren Weg in Richtung Tor, kullert aber Gott sei Dank ein paar Zentimeter am rechten Pfosten vorbei, nachdem Freund und Feind verpasst hatten. Fehlpässe en masse im Aufbauspiel verhindern, dass sich die Borussia in der gegnerischen Hälfte einnisten kann. Zu oft wird der Weg über die Außenverteidiger gesucht, die den Ball letztendlich doch wieder zum Innenverteidiger zurückschieben.

Wenige Minuten später schlägt Marin den Ball hoch in den Strafraum. Keeper Borger zieht im Luftduell sieben Meter vor dem Tor den Kürzeren gegen Friend und der Kanadier schiebt lässig ein zum 1:0 – denkste! Ein Pfiff von Babak Rafati – ohnehin kein Mensch, dem im Borussia-Park eine Welle der Sympathie entgegen schwappt – macht den Traum vom frühen ersten Tor zunichte.
Abseits – Fehlanzeige. Handspiel – sagt das DSF, aber die sehen sowieso häufiger ein anderes Spiel. Foul an Borger – klingt am plausibelsten, wobei der Keeper seinen Laufstall verlassen hatte und Friend seinen Körper absolut im Rahmen des Erlaubten einsetzt. Da Schiedsrichter ihre Fehlentscheidungen aber von Natur aus selten während des Spiels eingestehen, bleibt der Borussia nichts anderes übrig, als es geduldig weiter zu versuchen (wobei ausgerechnet Herr Rafati uns bei seiner „roten Karte“ für Marko Pantelic, die gar nicht für den Serben bestimmt war, noch vom Gegenteil überzeugt hat).

Die Geduld wird im nächsten Angriff fast belohnt. Ein Steilpass findet den ansonsten harm- und glücklosen Neuville auf rechts. Dessen gefühlvoller Heber über Paulis Borger findet Friend in Form einer Flanke. Doch dessen Kopfballverhalten erweist sich in dieser Szene als, na ja, nennen wir es mal suboptimal. Drei Meter vor dem (wohlgemerkt leeren) Kasten setzt der Kanadier den Ball ebenso weit über das Gehäuse. Der erlösende Torschrei bleibt im Halse stecken. Der Berufscholeriker vier Reihen über uns schreit trotzdem, wenn auch aus anderen Beweggründen.

Manchmal ist es faszinierend, zu beobachten, wie wenig Freude ein Stadionbesuch selbst dem passioniertesten Fan zu bereiten scheint. Da wird gezetert, gepfiffen, gemault und gestikuliert, als würde man alle zwei Wochen mit Eisenketten an einen Wellenbrecher gefesselt, dazu in eine Zwangsjacke gepackt und müsste sich dann das reizvolle Aufeinandertreffen von Oqjetpes Kokschetau und Energetik Pawlodar bei
-20°C im tiefsten kasachischen Winter ansehen.

Nachdem Marin von Rothenbach strafstoßverdächtig umgerissen wird und ein Freistoß von Rösler nur knapp am rechten Pfosten vorbeihuscht, gehört der letzte Aufreger der ersten 45 Minuten wieder den Gästen aus St. Pauli. Sako spitzelt den Ball mit langem Bein an Brouwers vorbei, der im Laufduell das Nachsehen hat. Doch der schlaksige Stürmer scheitert mutterseelenallein vor dem Tor an Keeper Heimeroth, der lange oben bleibt und seine vermutlich souveränste Saisonleistung hinlegt.

Im zunächst ausgeglichenen zweiten Durchgang haben wieder beide Teams die Führung auf dem Fuß. Braun scheitert an der Zielgenauigkeit. Friend kassiert im Privatduell mit Borger nach einem sehenswerten Drehschuss den Ausgleich zum 1:1. Und auch Neuville kann den Abpraller aus spitzem Winkel nicht ins Tor befördern. Nach einer Stunde bringt Luhukay, wie zu erwarten, Touma für den schwachen Ndjeng auf der rechten Außenbahn ins Spiel. Dass er eine Menge Torgefahr versprühen kann, hatte der schwedische Libanese bzw. libanesische Schwede ja schon gegen Aue unter Beweis gestellt.
Mainz und Hoffenheim sind mittlerweile in Führung gegangen und sitzen der Borussia im Nacken.

Nur zwei Minuten nach seiner Einwechslung löscht Touma jegliche Zweifel aus, dass auch seine Flanken und Freistöße Ndjeng-Niveau erreichen. Der muss nun gar um seinen Platz in der Startelf fürchten, denn Toumas erste Amtshandlung führt gleich zum erlösenden und verdienten 1:0. Seine gefühlvolle Freistoßflanke aus dem rechten Halbfeld wird lang und länger. Nach gefühltem zweiminütigem Aufenthalt in der Luft landet der Ball auf der Stirn von Rob Friend, der ihn – von Gegenspieler Eger sträflich allein gelassen – über die Linie wuchtet. Coeten und Nicht-Coeten sind gleichermaßen aus dem Häuschen und „döppen“ fröhlich vor sich hin. Die Freude am Erfolg ist unterm Strich das, was sie alle vereint.

Holger Stanislawskis Jungs sehen in der Folge ein, dass das letzte Wörtchen in diesem Spiel bereits gesprochen ist, wenn sie nicht alles Erdenkliche versuchen, um etwas daran zu ändern. Angesichts der zunehmenden Orientierung in Richtung Gladbacher Tor, häufen sich die Konterchancen für den Tabellenführer, der jedoch den Beweis schuldig bleibt, in dieser Disziplin Marktführer des Unterhauses zu sein. Neuville möchte am liebsten im Erdboden versinken, als allein seine Unentschlossenheit vor dem Tor dem 2:0 im Wege steht. Und jeder Coet, für den er der Heilsbringer der letzten vier Jahre gewesen ist, muss langsam eingestehen, dass seine Zeit, wie man so unschön sagt, langsam abläuft.

Aufmunternde Sprechchöre versuchen den kleinen Mann aufzupäppeln. Zumal es seine Kollegen nicht viel besser machen. Marin lässt in Maradona-Manier zwar vier Gegner stehen. Sein Schuss erreicht dann aber nur Bolzplatz-dienstags-um-halb-drei-Niveau. Touma zeigt zwar, dass er vom einfachen Wortlaut her torgefährlich ist. Aber leider bezieht sich das Wort „Tor“ in diesem Fall nicht auf das Gehäuse aus Aluminiumstangen, sondern auf den freudigen Vorgang, den Ball über die weiße Kreidelinie zu befördern. Bis zum Ende des Spiels gelingt dies weder den Fohlen in schwarz-weiß noch den Kiez-Kickern in braun-gold, weshalb 48418 Zuschauer (abzüglich der weiß-braunen Anhängerschaft im Gästeblock) nach 90 Minuten zufrieden die Hände in die Luft recken.

Die Mannschaft watet bereits auf die Nordkurve zu, um sich nach dem dritten Sieg ohne Gegentor in Serie feiern zu lassen, als ein weiteres Mal das berüchtigte Wiehern aus den Lautsprechern ertönt. Auf der Anzeigetafel erscheint das Playmobil-Stadion und da der Mann am Schaltpult mit Sicherheit Theater-Student im dritten Semester ist, weiß jeder, was nun aus dramaturgischen Gründen kommen muss: Koblenz hat in letzter Sekunde den Siegtreffer in Fürth erzielt. 96836 minus x Arme werden erneut gen Fußballgott gereckt. Der Vorsprung auf Platz vier datiert bei nunmehr sieben Zählern.

Mainz, Fürth, Köln, Wehen und 1860 bleiben allesamt ohne Dreier. Ein Arbeitssieg, der durchaus mit einem 4:2 hätte ausfallen können, wird zum klaren Fingerzeig in Richtung Bundesliga für die Borussia. Zehn Spieltage vor Toresschluss und nach drei Siegen in Serie erscheint die zweite Liga aus Borussensicht einmal mehr nicht als unliebsames Ungetüm, sondern als absolut wohltuende Nebenbeschäftigung.

Holt die Borussia aus den verbleibenden Partien mindestens 23 Punkte, ist die Heimkehr ins Oberhaus perfekt. Aber fragen Sie mal Jena und Paderborn, wie viel 23 Punkte sind. Denn die haben beide erst sechzehn auf dem Konto…

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