Ein Endspiel gegen Österreich - kein Fehler bei der Präposition, auch wenn wir uns ausschließlich ein Finale in Österreich gewünscht hätten. Man könnte genauso gut sagen: Wir haben unser Finale in Wien. Über den Kater nach der Offenbarung von Klagenfurt, die schwer an einen Sommerabend in Lyon erinnerte.
Am Morgen danach macht sich immer Katerstimmung breit. Der Schädel brummt, so sehr schmerzt die Niederlage. Die Stimme kämpft um ihre Existenz, weil Ballack, Gomez und Jansen einfach nicht so wollten wie der geneigte Fan vor dem Fernseher. Und irgendwie relativiert sich alles ein wenig mit der Zeit. Die Weltuntergangsstimmung weicht ersten schüchternen Anflügen von Optimismus und dem Drang zu Überleben. Eine andere Devise gibt es nicht.
„Noch ist Polen nicht verloren“, heißt es in der polnischen Hymne. Die Zeile kennen wir mittlerweile zu Genüge. Am besten ersetzen wir Polen jetzt ganz schnell durch Deutschland und sehen zu, dass wir am Montag das vollbringen, was schlichtweg unsere Pflicht ist: Österreich mit einer überzeugenden Leistung zu schlagen. (Atheisten mögen bitte ein "gottverdammt" vor das Wörtchen "Pflicht" setzen. Ich bin noch 14 Stunden lang Schüler eines Bischöfochen Gymnasium, ich darf nicht.) Nach einem trostlosen Auftritt wie gestern, der einem Offenbarungseid gleichkam, kann man sich eigentlich nur an ähnliche Beispiele aus der EM-Historie klammern.
An die Dänen, die 1992 ihre ersten beiden Partien nicht gewannen, sich den Titel aber nicht entgehen ließen. Wir können uns an die Niederländer erinnern, die 1988 ihr Auftaktspiel verloren und am Ende dennoch den Pokal in den Händen hielten. Wir denken zurück an die Tschechen, die vor 12 Jahren in der Vorrunde ganze vier Zähler holten und uns denkbar knapp im Finale unterlegen waren. Auch die Portugiesen können uns aufmuntern. 2004 verloren die das Eröffnungspiel, bis zum Ende hing das Weiterkommen am seidenen Faden, zum Schluss war nur die Hürde Griechenland zu hoch.
Doch es wäre fahrlässig, das gestrige Spiel so einfach aus der Welt zu schaffen und ihm den Stempel "Betriebsunfall" aufzudrücken. Die Liste der Versäumnisse ist lang, erschreckend lang, so dass es uns eigentlich Angst und Bange werden müsste bezüglich des Österreich-Spiels: Keine Laufbereitschaft, kein Kombinationsspiel, keine Ruhe, keine Dis(ch)ziplin, keine Durchschlagskraft, zu wenig Einsatz, kaum Torchancen, Standards, die man lieber vergessen möchte und auch noch ein Jogi Löw, der auswechselt, als habe er seine Mannschaft so oft spielen sehen wie die Auswahl Bruneis.
‚Bin ich hier im falschen Film’, ungefähr so muss es gestern Millionen durch den Kopf geschossen sein. Ich glaube zuletzt bei der EM 2004 habe ich mich vor dem Fernseher derart hilflos gefühlt, wenn die deutsche Nationalmannschaft gespielt hat. Die Couch braucht bald einen neuen Bezug, wenn das so weiter geht. Es hätte unumstritten ein Spiel am Rande zur Apokalypse sein können, doch dann ist Podolski auch noch so dreist und erzielt den Anschlusstreffer. Wir konnten lange Zeit froh sein, dass Lyon ’98 nicht seine vollkommene Reinkarnation erlebte. Im Endeffekt bleibt jetzt das wahnsinnige Gefühl, dass der Ausgleich gestern durchaus noch drin gewesen ist. Aber wie hätte das passieren sollen, wenn wir in den letzten fünf Minuten nicht einmal vor gegnerischen Tor auftauchen?
Bis Montag muss sich etwas ändern. Nicht nur etwas, sondern einiges. Die Zweifel am Weiterkommen halten sich zwar in Grenzen, aber was dann? Das jähe Ende aller Träume gegen Portugal?
Nach dem Polen-Spiel habe ich die Stunden bis zur nächsten Partie gezählt. Jetzt hoffe ich inständig, dass die verbleibende Zeit sich Zeit lässt. Einerseits dürfen wir nicht den Kopf in den Sand stecken, andererseits nicht die Versäumnisse des letzten Spiel verkennen. Der Mittelweg zwischen reuiger Selbstkritik und dem Glauben an die eigenen (irgendwo schlummernden) Stärken wird zum Erfolg führen. Falls es dann weiter geht, können wir weiter sehen.
Will ja nicht wie die Bild-Zeitung sein und pauschal alle mit mangelhaft durchfallen lassen, ein bisschen Differenzierung darf bei den Kopfnoten dabei sein – auch wenn’s schwer fällt:
Lehmann: Eine Glanzparade in Hälfte eins, chancenlos beim ersten Tor, nicht ganz schuldlos beim zweiten. Auch wenn es paradox klingt: Muss bei der Flanke vor dem 0:2 damit rechnen, dass der Ball eine andere Bahn nimmt als die, mit der er rechnet. Ließ zudem einen Schuss von Modric durchrutschen und hatte viel Glück – immer noch besser als der Großteil, dennoch nicht besser als 4.
Jansen: Kerner traf den Nagel ausnahmsweise mal auf den Kopf. Der Begriff „überlaufen“ wirkte beim Linksverteidiger meist euphemistisch. Desorientiert beim 0:1, vielleicht sein schwärzestes Länderspiel. Auch nach vorne ging selten etwas, immerhin mit den meisten Ballkontakten der ersten Hälfte und überraschenden 53% gewonnener Zweikämpfe. An der 5 führt dennoch - anders als an Jansen selbst - kein Weg vorbei.
Mertesacker: Weiterhin fast fehlerfrei im Passpiel, immer noch mit akzeptablen Zweikampfwerten, jedoch dilettantisch beim ersten Tor. Zog einfach den Kopf ein, dazu reaktionsschwach beim 0:2. Strahlte zudem nicht die annähernd die Sicherheit des ersten Spiels aus – mangelhaft, oder auch: 5.
Metzelder: Genau wie IV-Partner Mertesacker wie festzementiert beim 0:2, wirkte gegenüber Olic wie in einer anderen Zeitzone. Ordentlich 71% gewonnenen Zweikämpfe, die ihn auf eine 4,5 retten.
Lahm: Noch einer der besten unter haufenweise Grottenschlechten. Machte einen besseren Eindruck auf links, aufgrund von Jansens Verletzung möglicherweise auch am Montag dort unterwegs. Mit den meisten Ballkontakten und den besten Zweikampfwerten, leitete den Anschlusstreffer ein – vor allen Dingen in Hälfte zwei bester Deutscher, deswegen eine 3.
Frings: Zusammen mit Ballack so etwas wie das Synonym für den Misserfolg. Ohne Esprit im Mittelfeld, nicht da, wenn man ihn brauchte. Immer noch relativ eifrig, aber absolut erfolglos – 4,5.
Ballack: Schon gegen Polen nicht so gut wie der Rest, gegen Kroatien jedoch so schlecht wie die Mehrheit. Holte sich eine dumme gelbe Karte, war nicht präsent genug, allein beim 1:2 in der Offensive effektiv, hatte jedoch Glück, dass er Kovac anköpfte. Muss sich ganz schnell aufraffen – 4,5.
Podolski: Kam kaum zum Zug, immerhin mit dem einzigen Lichtblick in 90 Minuten, ackerte viel. Im Sturm nach Schweinsteiger Einwechslung verbessert, könnte Montag gemeinsam mit Klose stürmen – es wäre zu wünschen. Eine gut gemeinte 3,5.
Fritz: Knüpfte nicht an die Super-Vorstellung gegen Polen an. Keine Flanken von rechts, die in Erinnerung blieben. Zusammenspiel mit Odonkor existierte praktisch nicht. Mit schwachen 42 Ballkontakten, könnte davon profitieren, dass Lahm nach links rückt und die rechte Abwehrseite frei wird. Ein Wackelkandidat – 5.
Gomez: Stolperkönig, lief andauernd ins Abseits. Bleibt bislang am meisten unter den Erwartungen. Der vermeintliche neue Stern leuchtet nur noch schwach, gegen Österreich könnte das die Bank bedeuten – 5,5.
Klose: 26 Ballkontakte über 90 Minuten – das sagt eigentlich genug. Die Verzweiflung trieb ihn zu oft ins Mittelfeld. Ohne nennenswerte Aktionen. Nicht derselbe Klose wie gegen Polen. Wie Gomez ein Totalausfall, wird von seinem Kredit profitieren und zurecht in der Startelf bleiben. Fürs Kroatien-Spiel bleibt nur eine 5,5.
Odonkor ab 46.: Der Brüller der Spiels – wirkte wie ein 100-Meter-Sprinter, der sich sieben Monate lang nur von Bienenstich und Fleischrolle ernährt hat. Sollte die Kroaten als Unruheherd durcheinander bringen – sorgte selbst Hinten rechts nach Fritz’ Herausnahme für viel, viel Unruhe. Nicht EM-tauglich, hoffentlich sein letzter Auftritt bei der EM, wenn nicht gar in der Nationalelf – eine euphemistische 6.
Schweinsteiger ab 65.: Wenigstens aktionsreich zu Beginn, brachte gemeinsam mit Lahm auf links zumindest einen Hauch von Gefahr – hat sich fürs Erste selbst ins Abseits bugsiert. Der „Kicker“ gibt bei groben Unsportlichkeiten pauschal eine 6 – da Schweinsteiger nur 25 Minuten spielte, jedoch ohne Note.
Kuranyi ab 82.: Hätte eigentlich eine Note verdient, bekommt sie aber nicht. Für einen Ballkontakt in 11 Minuten auf dem Platz, für einen Pass, der nicht einmal ankam und für drei verlorene Zweikämpfe (von dreien natürlich, blöde Frage) geht die Sonder-6 des Tages an Kuranyi. Er hat sie sich redlich verdient.
Aufstellung:
Lehmann – Jansen (46. Odonkor), Mertesacker, Metzelder, Lahm – Frings, Ballack – Fritz (82. Kuranyi), Podolski – Gomez (65. Schweinsteiger), Klose
Tore:
0:1 Srna (24.), 0:2 Olic (62.), 1:2 Podolski (79.)
Gelbe Karten: Ballack, Lehmann – Srna, Simunic, Leko, Modric
Rote Karte: Schweinsteiger (90. +1, grobe Unsportlichkeit)
Freitag, 13. Juni 2008
EM-Tagebuch (16) -
Apokalypse mit Abstrichen
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen