Freitag, 20. Juni 2008

EM-Tagebuch (25) -
Kehrtwende ins Glück

Was schwer nach Telenovela klingt, beschreibt das Glücksgefühl nach dem Triumph von Basel vortrefflich. Drei Tore, ein Sieg und schlagartig wendet sich alles zum Guten. Die Fußballwelt ist schnellebig, das wissen wir nicht erst seit gestern. Doch selten war der Weg von der Katastrophe über die Offenbarung bis hin zum Triumphzug so kurz.

In der Verzweiflung und Hilflosigkeit endet der Fluchtweg allzu oft in Floskeln, Durchhalteparolen und anderen Überlebensmaßnahmen. So kam es, dass ich einen Sieg gegen Portugal zwar für möglich hielt, den Glauben noch nicht ganz verloren hatte. Aber die Gedanken an das Ende, ans „Danach“, waren allgegenwärtig und irgendwie stärker. Genau wie die Frage, in welcher Art und Weise sich die deutsche Mannschaft – im Falle des Falles – aus dem Turnier verabschieden würde. Erklärungsversuche wurden zurecht gemalt und heute – am Tag nach dem Triumph – ist es ein genugtuendes Gefühl, einmal all die Horrorszenarien getrost über den Haufen werfen zu können. Sonst sind es nämlich meist optimistisch zusammen gebastelte Triumphzüge, die nach einem kräftigen Schlag ins Gesicht nur noch Schall und Rauch sind.

Ich kann mich nicht daran erinnern, von einem Spiel in letzter Zeit derart (positiv) überrumpelt worden zu sein. Ok, da gab es ein 7:1 in Offenbach mit der Borussia, allein das hält dem Vergleich vielleicht noch stand. Aber es sagt genug aus, dass eine frühe Führung (26 Minuten von 90 sind nicht wirklich viel) gegen Portugal bereits in eine Schublade mit einem atemberaubenden Kantersieg gesteckt werden kann.

All das, was sie vor drei Tagen noch dilettantisch falsch gemacht hat, hat die deutsche Mannschaft gestern richtig gemacht – Pressing gespielt, den Ball schnell gemacht, zur richtigen Zeit das Tempo rausgenommen und die Chancen eiskalt genutzt. Auch im Rausch des Triumphes – am Gegenpol der Gefühle nach dem Kroatien- oder Österreichspiel – bleiben die Floskeln nicht aus. Denn: So kann man auch Europameister werden.

Der einzige Vorwurf lautet, dass wir es uns schwerer gemacht haben als nötig: Kurz vor der Pause ein unnötiges Tor gefangen, am Ende nicht mehr aus der eigenen Hälfte rausgekommen, dazwischen ab und an etwas unaufmerksam. Doch wer Portugal 3 : (1+1) schlägt, kann nicht allzu viel falsch gemacht haben. Es musste außerdem nervenaufreibend und fingernägelfeindlich werden – in 20 Jahren will der Groß- und Einzelhandel schließlich auch noch DVDs von großen EM-Auftritten verkaufen. Ein souveränes 3:0 gegen Portugal hätte da wie Blei in den Regalen gelegen.

Im Nachhinein ergeben die Ereignisse der letzten 8 Tage jetzt auch langsam einen Sinn: Beim Gruppensieg hätten wir erst heute gespielt, auf den Sieg gegen Portugal müssten wir noch sechs Tage warten. So gehen wir nun mit der Gewissheit ins Halbfinale, dass es eigentlich nicht schwerer werden kann. Und überhaupt: Wir sind schon im Halbfinale. Ok, die Portugiesen haben 2004 auch nicht aus ihrer Pleite gegen Griechenland gelernt und im Finale ein zweites Mal verloren. Nehmen wir uns also ein Beispiel an den Niederländern. Die haben vor zwanzig Jahren erst gegen die Sowjetunion verloren, um sie dann im Finale zu schlagen. Irgendetwas läuft verkehrt: Holland = Beispiel? Komisch, diese EM.

Ach ja, die Türken spielen heute Abend übrigens auch noch. Vermutlich werden wir annektiert, wenn die ausgerechnet gegen uns im Halbfinale gewinnen. Deshalb übernehmen wir das besser mit dem Sieg. Ist ja sowieso nett für die Türken in Deutschland. Bei einem Sieg heute Abend stehen die bereits sicher im Endspiel – einmal mit dem Herzen, einmal mit dem Personalausweis.

Ich denke, ich dürfte gestern zum ersten Mal gegen Deutschland getippt haben. Mit den zwei Treffern für Portugal ein ganz gutes Händchen gehabt, leider nur zwei Tore zu wenig auf der anderen Seite einkalkuliert. Den „Nuller“ nehme ich da gerne in Kauf. Was den rein sportlichen Erfolg angeht, ist das Sommermärchen jetzt bereits eingestellt. Schließlich war damals auch im Halbfinale Endstation. Doch wird alles anders werden.

Wenn es wie am Schnürchen läuft, macht es sogar Spaß Waldemar Hartmann zuzuhören. Steffen Simon ist plötzlich ein überragender Kommentator. Delling und Netzer machen den Eindruck, sie hätten ihre Frische der ersten Ehejahre zurückerlangt. Deutsche Fans im Stadion wirken schier übermächtig – unterm Strich ist die Fußballwelt mit sich im Reinen. Auf dass es noch zehn Tage so bleibt.

Die erfreulichen Kopfnoten:

Lehmann: Hielt nahezu jeden Ball fest, parierte jeden Fernschuss mühelos. Gewohnt aufmerksam im Herauslaufen. Weltklasse-Parade vor dem 2:1, die leider nicht belohnt wurde. Hat sich ins Turnier reingebissen. Fehlerlos und noch ein bisschen mehr - 1,5.

Lahm: Mit Aussetzern in der Anfangsphase, die anderen eher verziehen werden, bei Lahm einfach Seltenheitswert besitzen. Steigerte sich im Duell mit Simao, litt zudem unter Podolskis schwacher Arbeit nach hinten, bügelte aus, was auszubügeln war. Bestätigte den Trend des Turniers, am häufigsten am Ball. Ist einer der konstantesten im deutschen Team - 3.

Mertesacker: Erneut beteiligt an den Gegentoren. Grober Stellungsfehler beim ersten, stieg beim zweiten nicht entschlossen genug hoch. Führte auffallend wenige Zweikämpfe - zu weit weg vom Mann oder stets vorher bereinigt? Wirkte sicherer, wenn er direkt den Ball klären konnte. Mal wieder mit Mängeln in der Spieleröffnung - deshalb und aufgrund der Fehler vor den Toren nur eine 4.

Metzelder: Glich aus im Privatduell mit Mertesacker, zum zweiten Mal in diesem Turnier der bessere Innenverteidiger. Holte mit einem beherzten Vorstoß den Freistoß raus, der zum 2:0 führte. In nur 6 Zweikämpfe involviert, die er jedoch allesamt gewann. Konnte den Ball zwar nicht immer schnell genug klären, ansonsten akzeptabel - 3.

Friedrich: Nahm Cristiano Ronaldo weitestgehend aus dem Spiel - falls das überhaupt möglich ist. Mit guter Zweikampfbilanz, ließ keinen Schuss von Ronaldo aus der zweiten Reihe zu. Allein beim 2:1 nirgends aufzufinden und hinderte Nani nicht an der Flanke vor dem 3:2 (wobei es nicht nur F. alleine war). Natürlich in der Defensive festgenagelt, bei seinen raren Vorstößen erfolglos. Hinten jedoch soweit tadellos und ein Gewinn - 2,5.

Hitzlsperger: Wirklich gut, solange er sich aus dem Angriffsspiel raushielt. Stabilisierte die deutsche Abwehr vor allen Dingen in der ersten halben Stunde, dann nicht mehr ganz so konsequent. Mit drei Schüssen, die allesamt das Tor verfehlten. Meist zu eigensinnig, hätte in der zweiten Hälfte auf Schweinsteiger ablegen müssen, der rechts neben ihm mutterseelenallein stand. Ließ stark nach, Auswechslung die Konsequenz, möglicherweise mit konditionellen Defiziten. Ordentlich, aber ausbaufähig - 3,5.

Rolfes: Im 11. Länderspiel erstmals von Beginn an. Spielte über 90 Minuten einen Tick besser als sein Nebenmann Hitzlsperger. Strahlte Ruhe aus, blieb konzentriert. Ab und zu zeigte sich der Mangel an internationaler Erfahrung. Akzeptable Zweikampfwerte, empfahl sich für einen Einsatz im Halbfinale - und für höhere Aufgaben nach der Ära Frings? Mit Abstichen im Aufbauspiel, aber absolut zufriedenstellend - 3.

Podolski: Bereitete das erste Tor mit zwei Doppelpässen und maßgenauer Hereingabe mustergültig vor. Baute nach der Pause etwas ab, ließ mit einem Weltklasse-Schuss aufhorchen, der aus 30 Metern den Außenpfosten streifte. Defizite im Spiel nach hinten, nach vorne tadellos. Bäumte sich nach seiner schwachen Phase in der Schlussphase auf, hielt den Ball und hatte am Ende noch die Chance zum 4:2. Gut wie in allen Spielen bisher, von der Wade nichts zu spüren - 2.

Ballack: Mit der besten EM-Leistung. Pferdelunge wie immer, sehr gut im Spiel nach vorne, weil die Doppel-6 ihn entlastete. Stellte seine Kopfballqualitäten unter Beweis und kam erstaunlicherweise - trotz der Anzahl von 5 Fouls - um die gefürchtete Gelbe herum. Müsste aber auch einstecken, ließ jedoch nie nach im Einsatz. Der absolute Chef auf dem Platz, der den Portugiesen (charakterlich) fehlte. Überragend - 1,5.

Schweinsteiger: Mit dem ersten Gala-Auftritt im DFB-Dress seit... dem Portugal-Spiel 2006. Spintete vorbildlich zum 1:0, bereitete zwei Treffer mit scharf getretenen Freistößen vor. Beschäftigte die Portugiesen permanent, enormes Laufpensum. Nach 83 Minuten am verdienten Ende seiner Kräfte. Super Leistung - glatte 1.

Klose: Endlich mit dem ersten EM-Tor und dem 40. für den DFB. Ackerte wie immer, fleißigster Zweikämpfer. Fiel mehr auf, weil alleine im Sturm. Fast so gut wie gegen Polen, aber diesmal wenigstens erfolgreich. So kann's weitergehen - 2,5.

Borowski ab 73.: Etwas zu gut bewertet von Löw und Flick. Fand nie richtig ins Spiel, ging etwas unter und gewann nur eines von 6 Duellen. Mit Torchance in der Schlussphase, ansonsten eher blass. Keiner für die Startelf. Ohne Wertung.

Fritz ab 83.: Zu zögerlich vor dem 3:2, bekleidete in seinen elf Minuten Einsatzzeit ausschließlich Abwehraufgaben. Kommt derzeit wohl weder an Friedrich noch an Schweinsteiger vorbei. Bleibt als Kämpfernatur und Dauerläufer aber als Alternative im Hinterkopf. Ohne Wertung.

Jansen ab 89.: Nur fünf Minuten auf den Platz, dennoch laufend gefordert. Das, was er noch tun musste, war in Ordnung, gewann jeden seiner drei Zweikämpfe in dieser Zeit. Bleibt in der Hinterhand, falls jemand ausfällt. Ohne Wertung.


Aufstellung:
Lehmann – Lahm, Mertesacker, Metzelder, Friedrich – Rolfes, Hitzlsperger (73. Borowski) - Podolski, Ballack, Schweinsteiger (83. Fritz) – Klose (89. Jansen)

Tore:
1:0 Schweinsteiger (22.), 2:0 Klose (26.), 2:1 Nuno Gomes (40.), 3:1 Ballack (61.), 3:2 Helder Postiga (87.)

Gelbe Karten: A. Friedrich, Lahm - Petit, Pepe, Helder Postiga

4 Kommentare:

  1. Metzelder besser als Mertesacker? Da haben Sie wohl eine anderes Spiel gesehen als ich.

    Mertesacker mag zwar an beiden Toren beteiligt gewesen sein, strahlte aber bei Weitem nicht diese Unsicherheit aus, die in allen Aktionen Metzelders lag. 6 Zweikämpfe gewonnen. Wow. Da kann man mal wieder sehen, wie sehr diese ganzen Statistiken eigentlich vom Wesentlichen ablenken. Hat er vielleicht die entscheidenden Zweikämpfe, die, die wichtig gewesen wären, gar nicht geführt?

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  2. Naja, vielleicht habe ich die Tatsache, dass er nur 6 Zweikämpfe geführt hat nicht negativ genug ausgedrückt. Ich muss zugeben, dass solche Bewertungen auch immer ein bisschen von der Erwartungshaltung bestimmt werden - das ist wie in der Schule. Wenn ein guter Schüler da mal nicht ganz an sein Niveau rankommt kriegt er eine drei. Ein Viererkandidat, der einen gut Tag erwischt hat, kriegt schnell mal eine 2- (obwohl er in Wirklichkeit genauso gut war). Von Mertesacker ist man diese Aussetzer nicht so sehr gewohnt, während man bei Metzelder zumindest drauf vorbereitet ist. Bei meiner Meinung, dass Metzelder einen Tick besser war, bleib ich, ne 3,5 hätt's vielleicht auch getan.
    Neben dem Gesamteindruck fallen die entscheidenden Dinger eben am meisten ins Gewicht.

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  3. Sind Deine Noten also relativ? Skandal.

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  4. die fehler von mertesacker führten zu zwei gegentoren. was ist westenlicher als das? welche wichtigen zweikämpfe soll metzelder denn führen, damit die tore nicht fallen? beide noch weit von ihrer topform entfernt, aber in diesem spiel war metzelder eindeutig besser.

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