Deutschland gegen die Türkei - das gibt es nicht zum ersten Mal bei einem großen Turnier. Doch im Zuge der WM '54 wird es weitaus weniger Leute gejuckt haben als heute, 54 Jahre später. Jeder setzt krampfhaft ein Zeichen für ein friedliches Miteinander. Dabei ist das eigentlich gar nicht vonnöten. Alle wollen doch nur spielen und ganz einfach ins Endspiel. Oder etwa nicht?
Als im Achtelfinale der WM 2002 die USA und Mexiko aufeinander trafen, dürfte es in den Vereinigten Staaten selbst mehr Fans gegeben haben, die den Mexikaner die Daumen drückten. 30 bis 40 Millionen Latinos leben in den USA, die Mehrheit stammt aus Mexiko. Es dürfte nicht einmal so viele Amerikaner gegeben haben, die sich offiziell zum Fußball bekennen. Trotzdem behielt der „große Bruder“ die Oberhand über den „kleinen“. Die USA siegten mit 2:0.
Duelle zweier Länder, die miteinander verbunden sind, weil das eine für Millionen Bürger des anderen eine neue Heimat geworden ist, besitzen also keineswegs Seltenheitscharakter. Vor zwei Jahren bei der WM in Deutschland spielten Australien und Kroatien im direkten Duell um den Einzig ins Achtelfinale. „Down Under“ ist besonders nach dem Jugoslawien-Krieg zum Ziel zahlreicher Flüchtlinge aus Kroatien geworden. Immerhin jeder zwanzigste Einwohner ist heute Kroate. In der kroatischen Mannschaft spielt mit Josip Simunic einer, der in Australien geboren wurde. In der australischen Auswahl tummeln sich wiederum einige Spieler kroatischer Abstammung. Auch 2006 übrigens hatte das „Aufnahmeland“ das glücklichere Ende für sich. Kein schlechtes Omen für heute Abend.
Der Rheinischen Post zufolge leben in Deutschland 2.400.000 Bürger mit türkischem Migrationshintergrund. Das Statistische Bundesamt zählte Ende 2006 mehr als 7 Millionen Ausländer. Ungefähr jeder Dritte kommt damit aus dem Land unseres Halbfinalgegners heute Abend. Nach einer wahren Telefonodyssee und hektischen Nachfragen, wofür ich das denn wissen will, verriet mir Frau H. vom Ausländeramt, dass derzeit circa 3250 Bürger türkischer Abstammung in den Gemeinden des Kreises Viersen leben – die Stadt Viersen ausgenommen. Das heißt, dort sind ungefähr 14 von 1000 gedrückten Daumen heute Abend türkisch. In Duisburg beispielsweise dürften es um die 80 sein, in Berlin 53 und in Gelsenkirchen 75. Macht unterm Strich 4,8 Millionen hupende Hände gegenüber 150 Millionen. Der Lärmpegel wird dennoch ähnlich ohrenbetäubend ausfallen. Wobei die einzigen Mitbürger türkischer Abstammung, die ich vorhin auf der Fahrt ins „Dorf“ von Anrath gesehen habe, auf gepackten Koffern saßen – die Sommerferien haben begonnen und vermutlich geht es für die nächsten Wochen in die türkische Heimat zum Urlaubmachen. Autokorso adé.
So weit die Zahlen, doch ein scheinbar gewöhnliches Halbfinalspiel zwischen Deutschland und der Türkei birgt noch ganz andere Dinge. Denn das erste Aufeinandertreffen der deutschen und türkischen Nationalelf bei einer EM wird besonders von der Politik zum Fingerzeig für den Stand der Integration in Deutschland hochstilisiert. Der Fußball soll einmal mehr verbinden, was kulturelle und sprachliche Differenzen immer wieder voneinander entfernen. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung schiebt sich vor dem Reichstag mit einem türkischen Vertreter den Ball zu – im Hintergrund hängen die deutsche und die türkische Flagge eng umschlungen. Ein lokaler JU-Vorsitzender tauscht derweil das Trikot mit seinem Pendant der Deutsch-Türkischen Union.
Alle möchten krampfhaft ein Zeichen setzen. Ein wenig wirkt es, als wollten sie den Stand der Integration ausländischer Bürger gleichzeitig in eine freundliche Fassade hüllen, die von der anscheinend nicht ganz so erfreulichen Wahrheit ablenken soll. Wieso bedürfte es derartiger symbolischer Akte und zahlreicher Aufrufe, den Abend friedlich zu verbringen, wenn wir integrationstechnisch auf einem guten Weg sind? Irgendwie hat all das etwas Scheinheiliges.
Warum können wir das Spiel nicht einfach so wahrnehmen, wie es ist: Zwei Mannschaften, die zufällig eine Verbindung aufweisen, spielen um den Finaleinzug. Einer wird gewinnen und jubelnd durch die Straßen ziehen. Der andere eher bedröppelt daneben sitzen, oder – wenn er Lust hat – trotzdem mitfeiern. Muss sich stattdessen wirklich jeder symbolisch neben einen Mitbürger türkischer Abstammung setzen, nur um zu demonstrieren: ‚Wir sind freundlich und tolerant gegenüber Fremden’? Sind wir so unglaubwürdig in unseren Beteuerungen? Die Welle derartiger Aktionen soll das friedliche Miteinander von Menschen verschiedener Nationalitäten als selbstverständlich darstellen (so, wie es auch sein sollte). Im Prinzip bewirkt sie exakt das Gegenteil.
Wenigstens eines jedoch bringt dieser behutsame Schutz eines zerbrechlichen Hühnereis: Provokationen wie vor dem Polenspiel bleiben auf beiden Seiten aus. Momentan liegen sich alle in den Armen. Mal sehen, wie lange es so bleibt. Man muss heutzutage ja schon krampfhaft betonen, Mitbürgern jeglicher Nation offen und tolerant gegenüber zu stehen, ohne gleich irgendwelche Nachrufe aufkommen zu lassen. Ich schließe mich dem an, sage aber zum Schluss dennoch, dass mich das Spiel in Basel aus integrativer Sicht überhaupt nicht juckt. Ich will einfach ins Finale. Ob der Gegner dabei Frankreich, Italien oder Türkei heißt, ist mir relativ schnuppe. Ist doch auch tolerant, oder nicht?
Mittwoch, 25. Juni 2008
EM-Tagebuch (33) -
Krampfhafte Zeichen und ein Hühnerei
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