Gary Lineker wird seine Finger gestern Abend verbittert in die Sessellehne gebohrt und das halbleere Guinness wütend vom Tisch geschmettert haben. Ein bedeutender Satz schwirrte ihm mit Sicherheit durch den Kopf. Seine eigene Erklärung dafür, warum am Ende alleine weinen, nur einer nicht: Die Deutschen. Denn die gewinnen ja immer.
Die Holländer werden gleichzeitig bittere Tränen geweint haben, als Thomas Hitzlsperger den tödlichen Doppelpass auf Philipp Lahm spielte und der seinen eklatanten Fehler vier Minuten zuvor beim 2:2 durch Semih nahezu vergessen machte. Sie hatten die beste Vorrunde aller Teams gespielt, die Holländer, doch dann war wieder einmal Endstation, bevor das Rennen um den Titel überhaupt so richtig begonnen hatte.
In der Nachbargruppe B mühte sich Deutschland währenddessen nach einer bitteren Niederlage gegen Kroatien mit einem eigentlich ebenso bitteren 1:0 über Österreich ins Viertelfinale. Dort spielte die deutsche Mannschaft zwar brillant. Eine Zitterpartie bis zum Ende war es trotzdem. Nach gestern Abend ist es wieder einmal an der Zeit eine der durchgekautesten, aber immer noch treffendsten Fußballweisheiten hervorzukramen: „Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach und am Ende gewinnen immer die Deutschen.“
Sowohl für Holländer und Engländer als auch wohl für uns selbst bleibt diese These der einzige vernünftige Erklärungsansatz für das, was sich gestern in Basel ereignet hat. Für uns ist sie eine Durchhalteparole, die uns aufklärt, warum wir das 12. Endspiel in gut vierzig Jahren erreicht haben, ohne dabei durchgängig zu überzeugen. Ohne jemals zu überzeugen werden einige bissig hinzufügen. Für den Rest der Welt ist es, wie gesagt, nur ein Grund zum Verzweifeln und Heulen. Aber damit können zumindest wir in Deutschland ganz gut leben.
Es redet heutzutage nicht wirklich mehr jemand vom 1:0 gegen Südkorea im Halbfinale der WM 2002. Ein Tor, nicht einmal ein spektakuläres, kaum Geschichten, die uns heute noch irgendwie jucken. Höchstens Michael Ballacks gelbe Karte, die ihm das Mitwirken im Finale versagte, bietet sechs Jahre danach noch einen Hauch von Gesprächsstoff. Dem Spiel Deutschland – Türkei wird es mit Sicherheit nicht so ergehen. Vielmehr findet es sich ein unter den zukünftigen Verkaufsschlagern einer jeden DVD-Kollektion des DFB – im Kreise der Wasserschlacht von 1974, dem Sieg im Elfmeterschießen über England bei der EURO 96, oder dem Krimi gegen Frankreich bei der WM in Spanien vor 26 Jahren. Die Reihe ist scheinbar endlos, schließlich haben wir gestern nicht zum ersten Mal ein Spiel gewonnen, ohne einen triftigen Grund für unseren Erfolg zu kennen.
Die Bild- und Tonqualität des Spiels ließ jedoch zu Wünschen übrig. Allein das könnte dem DVD-Vertrieb einen Abbruch tun. Doch genau dies ist eben auch eine dieser Geschichten, die ein scheinbar simples Halbfinale von der Masse der gut 800 Länderspiele in der Nationalmannschaftsgeschichte abhebt. Im heutigen Zeitalter der Datenverarbeitung können wir den Blutzuckerspiegel von Per Mertesacker durch reines Betrachten einer Zeitlupe messen. Wir wissen, dass Jens Lehmann bei jedem Abwurf am meisten Druck auf seinen Ringfinger ausübt und Michael Ballack alle vier Spiele einen Marathon komplettiert. Unglaublich, dass ein scheinbar steinzeitlicher Bildausfall da noch im Rahmen des Möglichen liegt.
„Béla, wo ist Béla?“, wird sich so mancher in der zweiten Halbzeit gedacht haben. Anders als Fast-Namensvetter Behle tauchte der ZDF-Reporter Gott sei Dank bald wieder auf – süffisant lächelnd, mit Kopfhörern auf. Leider ist das bei Fußballkommentatoren kein gutes Zeichen. Denn außer bei einer Bildstörung bekommt man sie während eines Spiels eher selten zu Gesicht. Der spontane Medienwechsel zum Radio glückte nicht wirklich. Ein paar Minuten lang war ich mir nicht einmal sicher, ob Réthy überhaupt wusste, dass er in seinen Ausführungen von nun an etwas detaillierter werden müsste. Es freute mich sehr, Christoph Metzelders Namen zu hören. Ich hätte nur zusätzlich gerne gewusst, ob er gerade in höchster Not auf der Linie geklärt hat oder mutterseelenallein aufs gegnerische Tor zuläuft. Réthys Worten war das nämlich nicht wirklich zu entnehmen.
An dieser Stelle dürfte der Moment gekommen sein, die ewige Schweizer Skepsis und Aufmüpfigkeit zu loben, die nicht umsonst immer wieder an ein „kleines gallisches Dorf im Jahre 50 v. Chr.“ erinnert. Gestern hat uns die eidgenössische Mentalität einerseits den Abend, andererseits das Leben gerettet. Im Prinzip perfekt – wenn sich Ton und Bild dann auch noch in derselben Zeitzone bewegt hätten. Erst bekamen wir also das Spielgeschehen vom zu bemitleidenden Béla vorenthalten. Als das Bild sich zurückmeldete, entwickelte der 51-jährige dann doch glatt hellseherische Fähigkeiten und verkündete Kloses 2:1, bevor Philipp Lahm scheinbar überhaupt daran gedacht hatte, den Ball per Michael-Tarnat-Gedächtnisflanke in den Strafraum zu bringen.
Fünf Tore, ein gedrehter Rückstand, ein Treffer in der Nachspielzeit, drei Tore in den letzten zwölf Minuten, fünf insgesamt. Zwei Lattentreffer für den Verlierer, ein Torwartfehler mit Folgen auf jeder Seite. Mehrere Bild- und Tonausfälle, Béla Réthy mit seiner Kristallkugel, ein Quotenflitzer, der für Tibets Freiheit demonstrierte und das böseste Foul in einem ansonsten fairen Spiel einstecken musste. Ein Abwehrdepp aus der Linksverteidigung, der vier Minuten später zum Siegtorschützen wurde und unterm Strich ein gutes Ende für eine schlecht spielende deutsche Mannschaft – Pessimisten, Optimisten, Sadisten, chinesische Olympiafunktionäre, Deutschland-Fans, österreichische Kabeltechniker und Beschwörer eines gewissen Spruches von Gary Lineker sind gestern also allesamt voll auf ihre Kosten gekommen. Was will man da mehr? Ok, wie wär’s mit einer souverän auftretenden deutschen Mannschaft, einem sicheren Jens Lehmann und Manni Breuckmann im petto, falls sich das Bild noch mal verabschiedet?
Die Türken haben 20-mal aufs Tor geschossen. Wir selbst haben nur acht Schüsse abgegeben, die sich ziemlich leicht an 1,67 Händen abzählen lassen: Drei Tore, drei Versuche von Hitzlsperger am Tor vorbei, ein Freistoß von Ballack in die Mauer und Podolskis Abschluss über den türkischen Kasten nach Hitzlspergers grandiosem Pass – mehr war da nicht. 2,67 Schüsse für ein Tor, 10 auf türkischer Seite – hätten die Türken mit deutscher Effizienz getroffen, wären wir mit 3:7 untergegangen. Aber man hat gesehen, dass die Türken eben keine Deutschen sind (bis auf 2,4 Millionen), ums mit Franz Beckenbauer zu sagen. Die deutsche Mannschaft hat ihren Gegner mit seinen eigenen Waffen geschlagen, ihm gezeigt, dass er „kein alleiniges Patent auf Last Minute Heldentaten“ hat, wie der „Guardian“ heute schrieb.
Dieser Tage gewinnt man sowieso den Eindruck, Jogis Elf befinde sich im Besitz des Patentamtes für Fußballangelegenheiten. Und der Vorsitzende dort hat auch einen Namen: Er nennt sich Fußballgott. Ihm untergeben ist der Papst. Genau den hatten wir gestern in der Tasche. Und wie.
Die Kopfnoten folgen.
Donnerstag, 26. Juni 2008
EM-Tagebuch (34) -
Den Papst in der Tasche
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