Samstag, 5. Juli 2008

In de Kull

Über die Rückkehr an einen Ort, an dem einst Geschichte geschrieben wurde. 85 Jahre lang – von 1919 bis 2004.

Den Weg werde ich nie vergessen: An der Elisabeth-Kirche rechts, die nächste links, dann ungefähr 300 Meter geradeaus und schon ist man da. Die Sonne lässt an diesem heißen Juli-Tag das Gras auf den Hängen in einem satten Grün erstrahlen. Blanke Steintreppen führen von oben nach unten. Die Szenerie hat etwas von Sanssouci und Montmartre. Nur die Touristen fehlen. Es ist still, so ruhig war es hier seit 90 Jahren nicht. Wenn es nicht Sommer wär’, hätte die Atmosphäre fast etwas Beängstigendes an sich.

Das Straßenschild mit der Aufschrift „In de Kull“ verweist auf einen kleinen Schotterweg, der in der Wüstenlandschaft voller Kies und Sand kaum auszumachen ist. Neugier hat mich hierhin getrieben. So etwas wie Heimweh war mit Sicherheit auch im Spiel. Montmartre ist in Wirklichkeit nämlich „Mont Bökel“ – der sterbliche Überrest von einem der geschichtsträchtigsten Stadien, die Deutschland je gesehen hat.

Mitten in Mönchengladbach, wo früher Vogts, Netzer, Heynckes und Co. um deutsche Meisterschaften spielten, regiert vier Jahre nach Ende der Ära Bökelberg das Nichts. Die „Hänge“ von heute waren früher „Ränge“ – steil in die Luft gebaut und von Moos bewachsen. Die angepriesenen „Top-Grundstücke“ zwischen den ehemaligen Strafräumen dagegen sind allesamt noch unbebaut. Keiner will dort wohnen, wo sich alle zwei Wochen bis zu 34500 Zuschauer Bundesliga-Spiele anschauten. Wer sich in der Nachbarschaft umsieht, wird zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass es sich schlichtweg niemand leisten kann.

Im Prinzip erinnert nur noch der Wall der ehemaligen Süd- und Haupttribüne an die historische Vergangenheit dieses Ortes. Eine Hälfte der altehrwürdigen Nordkurve zeichnet sich auch noch ab. Doch ein wenig Fantasie genügt, um das alte Stadion vors innere Auge zu zaubern. Im Vergleich zu den riesigen Arealen, die die hypermodernen Arenen der Neuzeit einnehmen, wirkt die Fläche des Bökelbergstadions geradezu winzig. Mit dem Auto fahre ich dahin, wo bis vor vier Jahren ungefähr die Mittellinie verlaufen sein muss. Von der Straße bis zur alten Haupttribüne sind es geschätzte 150 Meter – ein Katzensprung.


Es hat etwas von der Rückkehr an eine alte Eiche im Westerwald, in die man vor 25 Jahren die eigenen Initialen und die der großen Geliebten eingeritzt hat – schöne Erinnerungen kommen hoch, etwas Wehmut macht sich breit. In meinem Leben gibt es keine derartige Eiche im Westerwald. Schließlich bin ich noch nicht einmal 25 Jahre alt. Aber wenn die Borussia aus fußballerischer Sicht eine große Liebe ist, dann gebührt dem Bökelberg im übertragenen Sinne die Rolle jener Eiche.

29 Spiele habe ich hier gesehen. Nicht unbedingt viele, wenn man bedenkt, dass der Bökelberg alleine um die 600 Bundesligaspiele kommen und gehen sah. Und dennoch weckt dieser Ort – im Jahre 2008 eigentlich nicht mehr als ein kahles, tristes Feld in Mönchengladbach-Eicken – Erinnerungen an viele schöne Stunden bzw. 90 Minuten: An ein 5:2 gegen Hansa Rostock, das vor zehn Jahren den Grundstein für den Klassenerhalt legte. An ein 6:1 gegen Alemannia Aachen in Liga Zwei, als die Borussia alle Treffer nach der Pause erzielte. An eine 0:1-Pleite gegen Werder Bremen bei Temperaturen, die man sonst nur vom Polarkreis kennt (übrigens eine von nur vier Niederlagen, die ich in diesem Stadion erlebt habe). An die Aufstiegsgaudi gegen Chemnitz im Jahr 2001, als das Stadion aus allen Nähten platzte und – davon gehe ich fest aus – sich mindestens 40000 auf die Ränge quetschten. An ein 3:0 gegen den HSV, als der Wind so stark wehte, dass der Ball beim Abstoß kaum den Strafraum verließ. Und natürlich an den Abschied vor vier Jahren, als Gladbach gegen 1860 München mit 3:1 gewann und der Bökelberg nach 85 Jahren von der Fußballbühne abtrat.

Ihre besten Tage hat die „Kull“ zwar in den 70ern erlebt. Doch vermutlich gerade deshalb, weil in den letzten 13 Jahren Borussia nicht immer nur eitel Sonnenschein herrschte, hat dieser Ort solch eine Anziehungskraft auf mich ausgeübt. Der „Mythos“ schert sich nicht um Erfolge oder Misserfolge. Er lebt tapfer vor sich hin. Auch wenn im Prinzip nur noch ein Straßenschild verrät, dass an diesem Ort Fußballgeschichte geschrieben wurde – „In de Kull“.


(Quelle: EWMG)

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