Sonntag, 16. November 2008

Mission 40/13: Von 0 auf 100 in 137

Innerhalb von 137 Sekunden versetzt die Borussia Zehntausende in pure Ekstase und feiert ein Comeback, wie man es am Niederrhein lange nicht gesehen hat. Welchen Anteil die Nordamerika-Fraktion daran besaß, warum ich erneut am Biermann-Syndrom litt und Katja Ebstein einmal mehr Recht behielt.

Nach 65 Minuten ist das Spiel scheinbar gelaufen, der Drops endgültig gelutscht. Soeben hat Steve Gohouri sich von Frank Ribéry düpieren lassen und den achten Pflichtspielelfer gegen die Borussia in dieser Saison verursacht. Das Herzstück des Münchener Offensivspiels ließ es sich freilich nicht nehmen, den Sack persönlich zuzumachen.

Enttäuscht, verbittert und kochend vor Abneigung gegen diesen Gegner sitze ich mit verschränkten Armen auf meinem Platz. Diese Bayern sind schlichtweg ein Phänomen. Jedesmal, wenn wieder zehn, elf Monate seit dem letzten Aufeinandertreffen der beiden Hauptprotagonisten aus den 70ern vergangen sind, neutralisiert sich meine Einstellung zum Rekordmeister zunehmend.

Im Prinzip hat Hass gegen einen Verein, der in diesem Fall wirklich nur mit dem Fernglas zu erhaschen ist, ja gar keinen sittlichen Nährwert. Doch wenn er dann Jahr für Jahr anreist, um der Borussia im direkten Duell drei Punkte zu klauen und dies in einer unnachahmlich arroganten Weise tut, ist es wieder soweit: Erinnerungen an die ergiebige Schadenfreude über eine Nacht in Barcelona im Jahr 1999 werden wach. Das Kicker-Sonderheft der Saison 2000/01, in dem es seit dem 19. Mai 2001 kein Mannschaftfoto der Bayern mehr gibt, meldet sich im Hinterkopf zu Wort. Und auf dem Platz versucht der FCB überheblich bis in die Haarspitzen, das Spiel lässig zu schaukeln, so dass ich mich fühle wie einst Christoph Biermann, als er „einmal vergaß, Schalke zu hassen“.

Um kurz vor fünf benötigt die Borussia ein Wunder, um das schier Unmögliche zu vollbringen. Um nach einem 0:2-Rückstand gegen den FC Bayern noch einen Punkt zu ergattern. „Wunder“ gibt es bekanntlich „immer wieder“, wie Katja Ebstein 1970 feststellte. Im selben Jahr gewann die Borussia ihre erste Meisterschaft. 38 Jahre später liegt sie im 81. Duell mit dem einstigen Dauerkonkurrenten um Titel und Triumphe geschlagen am Boden. Dass allein ein Schlager die Hoffnung auf eine Auferstehung nährt, verdeutlicht zu diesem Zeitpunkt eindrucksvoll die scheinbar ausweglose Lage. Dabei muss sich die Elf von Hans Meyer keineswegs schämen für ihre Leistung.

Als Luca Toni in der 20. Minute genau da stand, wo ein Stürmer zu stehen hat, war es die erste richtig nennenswerte Aktion der Partie. Lahm hatte Levels auf seinem Weg zur Torvorlage gleich mehrmals in die Wüste geschickt. Auf Seiten der Borussia ließ Brouwers seinen Schützling Toni einen Moment lang allein. Schon war es passiert. Bis dahin hatten sich tief stehende Gladbacher und ideenlose Bayern weitestgehend neutralisiert. Allein die Alles-ist-möglich-Aura des Rekordmeisters sorgte laufend für Gefahr. Doch Meyers Elf, mit Paauwe, Gohouri und Baumjohann für Van den Bergh, Dorda und Colautti auf drei Positionen verändert, versuchte die potentiellen Brandherde mit engagiertem Pressing und jeweils zwei Gegenspielern schon im Keim zu ersticken. Und das funktionierte prächtig, bis eine schwerwiegende Fehlerkette die Bayern geradezu einlud. Paauwe spielte einen schlampigen Rückpass, den Gospodarek prompt zum Gegner zurücksegeln ließ. Im Zweikampf mit Lahm zog Levels wie gesagt deutlich den Kürzeren, so dass der Rückschlag für die Fohlen auf die Kappe der gesamten Defensive ging.

Michael Rensing erlebte bis 17:00 Uhr einen äußerst ruhigen Nachmittag. Denn die Borussia hielt sich kontinuierlich fern von seinem Tor. Schüsse hatten Seltenheitswert, große Torchancen erst Recht. Zumal die Viertelstunde vor der Pause fast ausschließlich im Zeichen des Referees stand. Auf der einen Seite verweigerte Schiri Weiner den Bayern einen klaren Elfer und übersah Gohouris Ausflug in die ornithologische Abteilung der Beleidigungen. Anderseits hatte Weiner – um es mit Robert Kovac zu sagen – anscheinend die „Hosen zu voll“, um in einer strittigen Situation auch einmal pro Heimmannschaft zu pfeifen. (Hoffentlich liest das DFB-Schiedsgericht hier nicht mit.) Ribéry durfte in nahezu jedem Zweikampf beharrlich die Brust des Gegners massieren. Bei Luca Toni ließ Weiner genau das durchgehen, was er Rob Friend – dem taktischen und größenmäßigen Pendant des Italieners – jedesmal abpfiff. Zu guter Letzt kam Gohouris „Vogel“ erst zustande, nachdem der Ivorer für eine berührungslose Allerweltsgrätsche gegen Lucio die gelbe Karte gesehen hatte. Die Körpertemperatur der 54.000 im ausverkauften Borussia-Park näherte sich folgerichtig dem Siedepunkt. Von der malerischen Atmosphäre und dem freudigen Fahnenmeer vor dem Spiel war nichts mehr zu spüren. Und ich selbst durchlebte meine erneute Begegnung mit dem Biermann-Syndrom.

Solch eine Stadionbegegnung mit dem FC Bayern liefert einfach ganz andere und vor allen Dingen zahlreichere hassbildende Momente als 90 Minuten vor dem Fernseher. Tonis südländisch-nervende Gestik, seine ständiges Reklamieren, sein arroganter Torjubel – all das wird in schlichtweg höherer Intensität wahrgenommen, die ein TV-Erlebnis nicht annähernd bieten kann. Im Prinzip weckt allein der Fußball diese Gefühle. Denn so etwas wie Hass ist mir im Alltag irgendwie fremd.

Allein der Erfolg der eigenen Mannschaft schafft es daher, einigermaßen deeskalierend auf diese Empfindungen einzuwirken. Nach der Pause sah es deshalb tatsächlich so aus, als könne die Borussia der verhassten Stimmung etwas mehr Schadenfreue und Zufriedenheit beimischen. Van den Bergh war für den überforderten Brouwers gekommen, dessen Rolle als Toni-Bewacher der „Mann mit der Machete“ alias Steve Gohouri übernahm. Gladbach drängte nun konsequenter auf den Ausgleich. Allein die nennenswerten Torchancen ließen weiterhin auf sich warten. Auf der anderen Seite machten die Bayern jedoch wenige Anstalten, der Gladbacher Hoffnung ein baldiges Ende zu bereiten. Und so war es erneut ein Bock in der Abwehr der Gastgeber, der dem Spiel die scheinbar endgültige Entscheidung brachte. Ribéry schaltete zum ersten Mal so richtig ein paar Gänge höher. Schon hechelte Gohouri angezählt hinter dem Duracell-Hasen her und wusste ihn nur noch unfair zu stoppen. Womit wir wieder in der 65. Minute angelangt wären, in der der Traum von einer unverhofften Wende fürs Erste platzte.

Kurz darauf nimmt Klinsmann zwei seiner deutschen Nationalspieler vom Feld. Borowski kommt für den schwachen Schweinsteiger. Sosa ersetzt den gerade erst wieder genesenen Lahm, dessen Position in der Folge von Zé Roberto eingenommen wird. Auch optisch schalten die Bayern einen Gang runter. Wobei sich die Frage stellt, ob sie zuvor überhaupt über den dritten hinaus gekommen sind.

Nach einem solchen Nackenschlag ist es der Borussenfan eigentlich gewohnt, dass sich seine Mannschaft ehrfürchtig in der eigenen Hälfte einigelt, um das 0:2 tapfer zu verteidigen. Spektakuläre Wendungen und eine Alles-oder-nichts-Mentalität sind ihm so gut wie fremd. Na gut, im April machte Colautti aus einem 0:2-Rückstand in Jena noch ein Unentschieden. Ohne despektierlich zu sein: Was ist schon Jena? Ähnliches gelang der Borussia im Oberhaus zuletzt vor knapp drei Jahren, als Frankfurt nach einem 0:2 und Jansens Anschlusstreffer kurz vor der Halbzeit mit 4:3 nach Hause geschickt wurde. Ich selbst habe so etwas noch nie live im Stadion erlebt. Und heute, einen Tag nach der Premiere im 85. Gladbach-Spiel meines Lebens, weiß ich auch endlich, was mir da entgangen ist.

Wider erwarten machen sich nach dem Vogelbesuch in Hälfte eins weitere Tierbesuche rar im Borussia-Park. Einigeln: Fehlanzeige. Zuerst reagiert Meyer, indem er die Doppelsechs auflöst, Matmour für Alberman bringt und auslotet, ob die Bayern ihre zementierte Führung weiter so lethargisch über die Zeit retten wollen. Als die Wiederauferstehung auf sich warten lässt, setzt der 66-jährige alles auf eine Karte. Er wechselt Colautti für Paauwe ein und spielt die letzten 13 Minuten mit sechs Offensiven – hopp oder top. Die Sechs, die es richten sollen, sind im Schnitt 22,8 Jahre alt.

Zwei Minuten darauf zeigen die Maßnahmen endlich Wirkung: Marin spielt einen Eckball auf Baumjohann, der das Leder halb artistisch, halb glücklich in die Mitte bugsiert. Dort steigt Friend am höchsten und setzt den Kopfball unhaltbar ins linke Eck. 835 Minuten Toraskese finden ein Ende. Der Borussia-Park ist sofort wieder da und erwacht aus der Totenstarre.

Was 137 Sekunden später folgt, ist eine Explosion der Ekstase. Ein Adrenalinstoß, der einen 17-Tonner von der Straße hauen würde. Gohouri spielt einen öffnenden Pass auf Marin, der in gewohnter Manier Fahrt aufnimmt und Baumjohann an der Strafraumgrenze anspielt. Dessen Weiterleitung mit der Hacke ist nicht nur für die Galerie, sondern findet Colautti im Sechzehner. Der eingewechselte Israeli setzt sich gegen Lell durch und schlägt eine Flanke wie der Film „Titanic“ – gefühlvoll, verheerend und oscarreif. Aus dem Hintergrund rauscht Bradley heran und beschert Zehntausenden ein orgastisches Fußball-Erlebnis der Superlative. Gut 50.000 Freudenschreie vereinigen sich zu einem Vulkanausbruch, der meinen redaktionellen Mitarbeiter Nils heute zu Recht die Frage stellen lässt, „was los ist, wenn Gladbach mal wieder Meister wird“.

Eben jene Momente sind es, die die tosende Antwort liefern, warum man sich diese ganze Prozedur nach all den Pleiten, Enttäuschungen und leidvollen Erfahrungen der letzten Jahre überhaupt noch antut. Denn nur im Stadion fällt man altbekannten und wildfremden Menschen gleichzeitig in die Arme. Nur beim Fußball erlebt man derart explosive Glücksmomente, die noch Stunden danach für einen roten Kopf, Puls von 180 und Blutdruck am Rande eines Nervenkollaps sorgen. Einfach nur geil.

In den letzten zehn Minuten steht das gesamte Stadion und zählt lauthals singend, jedoch mit zittrigen Knien, die Sekunden bis zum Abpfiff. Man möchte fast sagen, der Ausgleich sei viel zu früh gekommen. Anstatt exzessiv Beton anzurühren, verschreibt sich die Fohlenelf in der Schlussphase dem Motto „Wer den Ball hat, kann kein Tor kassieren“. Kurze Zeit hat es den Anschein, als wollten die Borussen im Rausch der Gefühle mehr als den einen Punkt, den sie sich unterm Strich redlich verdient haben. Die Sekunden verrinnen einmal mehr im Minutentakt. Die Nachspielzeit von einer Minute ist fast rum, als Luca Toni noch einmal zum Kopfball hochsteigt. Doch der Ball segelt einen halben Meter am Tor vorbei.

Dann ist es aus. Schluss und vorbei. Gladbach schlägt lange Zeit abgezockte, letztendlich jedoch einzig und allein arrogante Bayern mit 2:2. Nicht umsonst führt das Wörterbuch des Fußballs unter S den Begriff „Sieg, gefühlter“. Denn erst zum zweiten Mal in 81 Bundesligabegegnungen mit dem FC Bayern holt die Borussia nach einem 0:2-Rückstand noch einen Punkt. Im April 1993 egalisierte Martin Dahlin die komfortable Pausenführung des Rekordmeisters mit seinen Treffern in der 46. und 71. Minute. By the way: Das 0:1 hatte ein gewisser Christian Ziege erzielt.

Mit nunmehr sieben Zählern aus fünf Spielen klettert Hans Meyer auf der Sympathieleiter ein paar Sprossen nach oben. Seine Auswechslungen waren Balsam auf die Seele. Das Resultat natürlich sowieso. Klar, das Trainerleben ist ziemlich leicht auszurechnen: Läuft es einigermaßen, wirst du geduldet. Hast du Erfolg, liegen sie dir zu Füßen. Andernfalls bist du ganz schnell der Sündenbock und schneller wieder weg als du „der Stuhl des Trainers wackelt“ sagen kannst.

Die Borussia ist dafür belohnt worden, dass sie mit genau den Tugenden aufgetreten ist, die der Abstiegskampf erfordert: Kampf, Leidenschaft, volle Ausschöpfung der limitierten Fähigkeiten und Effizienz vor des Gegners Tor. Ohne Großchancen und mit nur 12 Torschüssen sind die Fohlen zu zwei Treffern gekommen.

Marko Marin, der Held aus Bielefeld, war unter Ziege und Meyer an fünf der letzten sechs Tore unmittelbar beteiligt. Diesmal ging er ohne Tor oder Assist vom Platz. Seine Qualitäten waren jedoch auch diesmal Gold wert. Fünfmal ging er zu Boden und war damit einmal mehr der meistgefoulte Borusse. Vor dem 1:2 spielte er den vorletzten, vor dem Ausgleich den drittletzten Pass leitete die Treffer also dennoch ein. Derweil trägt die Kooperation von „Ranger Rob“ und seinem Praktikant Bradley in der kanadischen Einöde endlich Früchte. Ausgerechnet die lange Zeit glück- und saftlose Nordamerika-Fraktion besorgte beide Tore. Vielleicht zahlt sich Geduld manchmal doch aus. Besonders im Fall vom Bradley, der die Zeit bekommt, die er braucht, um sich in der Bundesliga zurechtzufinden. Oft genug schon ist ein Neueinkauf schnell wieder auf der Bank gelandet, weil er nicht auf Anhieb überzeugt hat.

Die Borussia beschert den Bayern ihr Bundesliga-Barcelona. Wie gegen Bochum gibt der Meister eine Zwei-Tore-Führung innerhalb von zwei Minuten aus der Hand. Dabei war die Elf von Hans Meyer nach knapp 70 Minuten klinisch tot. Doch sie hat sich aufgerappelt und ist aufgestanden. Angesichts des damit verbundenen Hochgefühls, ist man fast geneigt ins Biblische abzuschweifen: Gladbach hat gestern eine Auferstehung erlebt.

6 Kommentare:

  1. Klasse Bericht, sehr schön zu lesen.

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  2. Du schreibst mir aus dem Herzen! Besser kann man es einfach nicht (be-)schreiben!

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  3. Sehr gediegen geschrieben, aber gegen Frankfurt stand's zur Pause 1:2 (Jansen mit dem Halbzeitpfiff)

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  4. Danke Euch für die Kommentare!

    Stimmt, den Jansen vor der Pause hab' ich unterschlagen. Aber 0:2 stand's ja trotzdem;)
    Werd's gleich ändern.

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  5. Folgendes wäre in dem Zusammenhang noch zu erwähnen:

    Am 29. Spieltag der Fußball-Bundesliga verlor Titelaspirant Bayern Manchen bei Borussia Mönchengladbach 0:2.

    Mit einem Doppeischlag in der 88. und 90. Minute machte der in der Schlußphase eingewechselte Heiko Herrlich den Sieg für Borussia Mönchengladbach gegen den Spitzenreiter perfekt.

    https://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/1994/0406/sport/0054/index.html

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