Zwei Spieltage zeigte die Formkurve nach oben. Nach dem sang- und klanglosen 1:3 auf Schalke macht sich jetzt wieder Ernüchterung breit. Warum Manni Breuckmann gestern Gott sei Dank wenig zu sagen hatte, die Borussia bestenfalls die Premiere-Regie schwindelig spielte und nun den Nanga Parbat fürchtet.
Um 16:45 Uhr, in der 58. Minute, verlasse ich das Wohnzimmer. Gezwungenermaßen, aber – anders als ich zuvor gedacht hatte – keineswegs schweren Herzens. Schuld an meiner Fluchtaktion ist nämlich nicht primär der enttäuschende Auftritt der Borussia auf Schalke, sondern ein sportlicher Widerspruch, der mich seit mittlerweile 12 Jahren begleitet. Jedes dritte Wort, das ich in den Mund nehme, dreht sich zwar um Fußball. Gut ein Viertel aller Gedankengänge widme ich einem runden Leder, das mit dem Fuß getreten wird. Doch ironischerweise führe ich 80 Prozent meiner aktiven sportlichen Betätigung mit den Händen aus. Es ist zwar nicht zwingend vorgeschrieben, dass ein passiver Fußballverrückter auch Wochenende für Wochenende die Ascheplätze der Republik beackern muss. Unlogisch wäre es dennoch nicht.
Doch ganz ehrlich: Wenn ich einmal aktiv gegen einen Ball trete, dann geschieht das mit großer Wahrscheinlichkeit beim Handballtraining. Die Vorbereitungsphase eines D-Ligisten im Sommer besteht zu neunzig Prozent aus rumpligen Fußballeinheiten auf dem dorfeigenen Bolzplatz, dem Gomorrha aller Bänder und Sprunggelenke. In meinen 19 Lebensjahren war ich keine Minute lang in einem Fußballverein angemeldet und habe vielleicht acht, neun Spiele bestritten, die mit einem korrekten Anstoß begannen, von einem Schiedsrichter angepfiffen und auch wieder abgepfiffen wurden.
Vor circa sieben Jahren habe ich in einem Freundschaftsspiel mit der Schulmannschaft mein Waterloo als Manndecker erlebt. Während meines Austauschjahres in den USA durfte sich das High-School-Team im Vorfeld daran ergötzen, einen echten Legionär vom Mutterkontinent des Fußballs in seinen Reihen zu begrüßen – um kurz darauf anhand meiner Person den Untergang der europäischen Vorherrschaft in diesem Sport zu konstatieren. Zwei Treffer beim 13:0 gegen die Zweitvertretung von Liberty-Eylau sind alles, was ich an Erfolgen vorzuweisen habe. An meinen verunglückten Befreiungsschlag aus 45 Metern, der wie ein desorientierter Feuerwerkskörper im Tor einschlug, erinnert man sich jedoch noch heute im Nordosten von Texas. Nach drei Monaten war das Intermezzo als Amerika-Legionär beendet (wobei man ja kaum von einem Intermezzo sprechen kann, wenn nach dessen Beendigung nichts mehr folgte). Länger als ein paar Wochen im Winter will man die Ei-verliebten Menschen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten nicht mit diesem seltsamen Sport quälen.
Und so breche ich nach einer knappen Stunde Gladbacher Trostlosigkeit auf, um mir im Zweitrundenspiel des Kreispokals eine 20:36-Klatsche abzuholen, mit der man als Elfligist gegen einen Landesligisten ganz gut leben kann. Die Angst, irgendetwas Weltbewegendes vor dem Fernseher zu verpassen (und seien es nur drei weitere Schalker Tore), erweist sich im Nachhinein als vergeudet. Als hätten beide Mannschaften in der Veltins-Arena etwas geahnt, ist der Halbzeitstand gleichzeitig das Endresultat. Trotzdem spaziere ich beim Warmmachen mit einem Knopf im Ohr durch die Halle. Manni Breuckmann kommt in der WDR2-Schlusskonferenz nur noch selten zu Wort. Angesichts des dürftigen Gladbacher Auftritts alles andere als ein schlechtes Zeichen. Kurz vor Schluss vermeldet er, dass Rob Friend knapp einem Platzverweis entging, als er den Ball in der Manier eines Handballtorwarts auf der Linie klärte. „Gott sei Dank“ oder „Schade“ – ganz so sicher bin ich mir noch immer nicht.
Schließlich hatte der einsame Rob für den einzigen Glücksmoment an diesem abgespeckten Bundesliga-Samstag gesorgt. Sein Anschlusstreffer zum 1:2 nach klasse Vorarbeit von Baumjohann stand dabei symbolisch für die Probleme der Borussia. Unter Meyer läuft es offensiv mittlerweile gar nicht mehr so schlecht. Mit dem Offensiv-Duo Baumjohann-Marin ist die Kreativität zurückgekehrt. Und wenn der monatelange Torasket Friend tatsächlich zu alter Stärke zurückfinden sollte, schrumpfen die Sorgenfalten gleich einmal um 50 Prozent. Da jedoch hinten weiterhin das Wir-können-gar-nicht-so-viele-Tore-schießen-wie-wir-kassieren-Prinzip Einzug hält, hätte selbst eine Botox-Kur ihre Probleme, die Stirn zur faltenfreien Zone zu machen.
Was Tobias Levels sich gestern geleistet hat, sozusagen als Sinnbild für die Gladbacher Abwehrmisere, hatte mit viel Wohlwollen höchstens Drittliganiveau. Den neunten Elfer gegen die Borussia in dieser Saison verschuldete er persönlich. Beim 1:3 hebelte er die eigene Abseitsfalle aus und feierte seinen Geistesblitz, indem er kniend auf dem Rasen verharrte. „Offense wins games, defense wins championships“ – da die „Meisterschaft“ in diesem Jahr aus Gladbacher Sicht Klassenerhalt heißt, dürfte klar sein, auf welchen Positionen im Winter Handlungsbedarf besteht. Filip Daems ist derzeit der einzige Innenverteidiger, der wenig bis gar kein Kopfzerbrechen bereitet. Dass er gleichzeitig der beste Linksverteidiger ist, erleichtert die Situation nicht unbedingt. Vermutlich wäre er auch auf rechts die beste Lösung. Doch anstatt den Belgier zu klonen, muss die Borussia schlichtweg in die Tasche greifen und in der Winterpause auf dem Transfermarkt Abhilfe schaffen.
Hans Meyer bescheinigte seinen Jungs im Sportstudio gewisse „Potenzen“ im Spiel mit dem Ball. In Bezug auf die Abwehrarbeit nahm er es zwar nicht in den Mund, aber es ist unumgänglich: War Schalke am Ball, präsentierte sich die Borussia schlichtweg „impotent“. Man könnte die Wortspielerei noch fortführen und feststellen, dass den Fohlen gerade in der Defensive einer mit "Eiern" fehlte. Ein echter Leader, der seine Nebenleute aufweckt und wach hält. Zudem hat Gladbach jeglicher psychologischer Logik getrotzt. Wer den Bayern innerhalb von 137 Sekunden einen sicher geglaubten Sieg aus der Hand nimmt und eine derart orgastische Stimmung im Stadion miterlebt, der müsste logischerweise mit geschwellter Brust nach Schalke reisen – mit dem Ziel, dort dank eines engagierten Auftritts wenigstens einen Punkt zu erobern. Doch stattdessen fiel man zurück in die alte Auswärts-Lethargie und unterlag einer alles andere als selbstbewussten Schalker Mannschaft sang- und klanglos mit 3:1. Wer hier einen Sinn sucht, kann lange suchen. Zumal mit Kevin Kuranyi ein Königsblauer die Verunsicherung seiner Kollegen geradezu personifizierte. Gleich zweimal wandelte er auf den Spuren von Frank Mill. Letztendlich verlor die Borussia also mit 1:3(+2).
Die Regie von Premiere war bei Altintops zweitem Treffer sogar so verwirrt, dass sie anstelle seines zweiten Saisontores die Einblendung „2. Gelbe Karte“ zeigte. Borussia Mönchengladbach – trotz ansteigender Formkurve noch immer die Wohlfahrtsanstalt der Liga, der Aufbaugegner für geschundene Seelen von Nord bis Süd.
Heribert Bruchhagen revolutionierte unter Woche die Arithmetik des Abstiegskampfes, indem er prophezeihte: „In dieser Saison reichen 30 Punkte für den Klassenerhalt.“ Keine ganz so vage These, wenn man bedenkt, dass Gladbach als Fünfzehnter der Tabelle nach 14 Spieltagen Kurs auf 27 Punkte nimmt. Ein Dreier im ominösen Sechs-Punkte-Spiel gegen Cottbus könnte damit schon fast die halbe Miete bedeuten. Sechs Mannschaften befinden sich momentan unmittelbar in der Abstiegsregion. Hätte dieses Bild Bestand, würde sich die Hälfte retten, zwei müssten sofort den Gang in Liga Zwei antreten, einem zu bemitleidenden Team böte sich ein letzter Strohhalm in der Relegation. Nach gestern weiß einmal mehr nicht ganz genau, woraus ich diesen Optimismus schöpfe. Aber ich bin mir relativ sicher, dass es möglich sein müsste, mindestens drei Mannschaften zu finden, die schwächer sind als die Borussia.
Denn Cottbus ist im dritten Bundesligajahr in Folge einfach reif. Schon die Erstligaperiode zu Beginn des Jahrtausends fand nach drei Spielzeiten ein Ende. Der VfL Bochum, 2006 gemeinsam mit den Lausitzern aufgestiegen, erlebte zwei seiner letzten drei Abstiege ebenfalls in der scheinbar ominösen dritten Saison. Nach zwei sorglosen Jahren ist der sechste Niedergang der einst Unabsteigbaren wahrscheinlich. Arminia Bielefeld, die dritte „graue Maus“ im Bunde, hat sich mit dem unverhofften Dreier gegen Leverkusen zwar etwas freigeschwommen. Doch auch die Ostwestfalen werden es nicht gerade leicht haben, die Klasse zu halten. Der Abstiegskampf gehört für sie zwar zum Geschäft wie das Titelrennen für die Bayern. Die Arminia spielt jedoch das fünfte Jahr in Folge im Oberhaus – ein sechstes wäre Vereinsrekord. Auch der KSC ist erprobt im Kampf um den Klassenerhalt. Das zweite Jahr nach dem Aufstieg erweist sich als hammerhart. Schon zum Ende der letzten Saison ging es für die Überraschungsmannschaft der letzten Spielzeit bergab. Zu guter Letzt hinkt Hannover 96 seinen Ansprüchen meilenweit hinterher. 13 Punkte, Platz 13 – zu wenig für die ambitionierten „Roten“. Ein Befreiungsschlag lässt weiter auf sich warten. Mit zwei läppischen Abstiegen ist die Borussia somit das unbeschriebenste Blatt in diesem Kreis. In ihrem Umfeld zehrt sie von der größten Substanz aller Abstiegskandidaten. Als einziger Vertreter hat sie jedoch schon einen Trainerwechsel hinter sich, der bei ihren Konkurrenten womöglich die Wende bringen könnte.
Unterm Strich ist all das jedoch höchst hypothetisch. Samstag gegen Cottbus gilt es, das Punktekonto irgendwie auf 14 zu schrauben. Unter Umständen könnte das bereits eine Winterpause auf einem Nichtabstiegsplatz bedeuten. Doch Spiele wie das der Arminia gegen Leverkusen zeigen: Jeder kann jeden schlagen, jede Prophezeiung bewegt sich auf einem verdammt schmalen Grat. Ähnlich könnte es bei einem Misserfolg der eigentlich gestärkten Borussenbrust ergehen: Sie könnte ganz schnell ganz schmal werden. Die Luft würde schlagartig wieder dünn wie auf dem Nanga Parbat.
Sonntag, 23. November 2008
Mission 40/14: Impotent auf Schalke
Eingestellt von Jannik um 16:26
Labels: Bundesliga, Gladbach
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