Donnerstag, 20. November 2008

Zurück in die Zukunft

Die deutsche Nationalmannschaft läuft Gefahr, sich im Nebel eines vermeintlich guten Länderspieljahres zu verlaufen. Denn vor lauter Warnschildern sieht sie derzeit die Baustelle nicht mehr.

Béla Réthy ist eigentlich kein Münchhausen. Was er sagt, hat meist Hand und Fuß – und man kann sich so sehr wie bei kaum einem anderen Kommentator darauf verlassen, dass es stimmt. Als er gestern die Zuschauerzahl von 74244 im Olympiastadion verkündet, widerfährt es ihm dann doch einmal. Réthy dreht einem Millionenpublikum Halbwahrheiten an. Denn seine 74244 Zuschauer sind nicht ganz korrekt: Es fehlen genau 11. Besondere Erkennungsmerkmale: weißes Trikot, Adler auf der Brust.

Dabei liegt es über fast die gesamte Spielzeit auf der Hand, dass diese deutsche Mannschaft nicht voll auf der Höhe sein kann. Aufgrund ihrer Anlagen sozusagen zum Zuschauen verdammt. Statistisch gesehen verliert die Nationalmannschaft nur knapp jedes fünfte Spiel. Und wenn wir uns schon jeden Sonntagabend fragen, warum das Wochenende wieder rum ist, müssen wir erst Recht hinterfragen, was da gestern in Berlin schief gelaufen ist.

Schwarzmaler könnten sich nun problemlos in Weltuntergangsszenarien retten. Die eher nüchterne Fraktion wird vermutlich darauf verweisen, dass die Jungs mit dem Adler auf der Brust seit 2004 das letzte Länderspiel einer Saison nicht mehr gewonnen haben. Zuletzt hatte es zwar stets noch ein Remis gegeben. Jetzt setzte es mal wieder eine Pleite – wie immer eigentlich, wenn es gegen die „Großen“ geht. Doch wer sich gestern über Heiko Westermann den Kopf zerbrochen hat, Jermaine Jones‘ Abrissqualitäten im Aufbauspiel mit ansah und Mario Gomez‘ Non-Existenz im Angriff beobachtete, wird sich damit kaum zufrieden geben. Denn was bislang als Perspektive für die Zukunft galt, erscheint im Licht der gestrigen Offenbarung von Berlin vielmehr als apokalyptische Vorahnung.

Selbst René Adler menschelte. Und deutsche Torhüter, die Fehler machen, kommen einem von Natur aus verdammt englisch vor. Zum Glück ließ sich sein Kollege Carson auf der anderen Seite nicht lumpen und erinnerte den verzweifelten Zuschauer prompt daran, dass selbst ein menschelnder Adler immer noch ein wahrer Segen ist. Doch der Fauxpas, der Patrick Helmes sein erstes Tor im neunten Länderspiel ermöglichte, war letztlich nur Augenwischerei, hätte uns fast noch einen Punkt beschert, die wir nie und nimmer verdient hatten.

Die Gewinner aus deutscher Sicht verfolgten das Spiel weder auf dem Platz noch auf der Tribüne, sondern vermutlich auf der Wohnzimmercouch. Im Nachhinein sind die Lautsprecher der vergangenen Wochen, Ballack und Frings, stärker denn je aus der Sache hervorgegangen. Simon Rolfes hat von seiner Zuverlässigkeit und Souveränität aus Leverkusen kaum etwas ins DFB-Trikot retten können. Von Jermaine Jones will ich eigentlich gar nicht reden. Es gab Zeiten, da brauchte jedes Team einen echten „Zerstörer“. Doch damals war der Zement der Berliner Mauer noch feucht und keiner der heutigen Protagonisten geboren. Ohne Ballack und Frings geht (noch) nichts. Soviel haben wir gestern gelernt.

Die nächste Baustelle wäre die Innenverteidigung. Die Nominierung von Marvin Compper verhieß bessere Zeiten. Doch anstatt sein Können in der Mitte zeigen zu dürfen, erlebte er auf links ein Debüt à la Westermann in Österreich – mit viel Luft nach oben. Als Compper nach der Ära Jansen die linke Außerverteidigerposition in Gladbach bekleidete, habe ich ehrlich gesagt daran gezweifelt, dass der Mann überhaupt nochmal Bundesligaluft schnuppern wird. 100.000 Euro und eine Umschulung später spielt er im Nationalmannschaftsdress in Berlin gegen England.

Und so schaukelten sich Westermann und Mertesacker in ihrem ewig jungen Duell gegenseitig hoch – der größere Grobmotoriker ist dennoch nicht gefunden worden. Arne Friedrich hat dagegen in bewährter Manier dieselbe Kassette eingelegt wie in seinen ersten 63 Länderspielen und die rechte Außenbahn weitgehend von aufsehenerregenden Vorstößen verschont. Als sitze ihm der Nutella-Fluch im Nacken, spielte er getreu dem Motto „Wer nicht anwesend ist, kann nichts kaputt machen“. Der größte Gewinner ist auch in der Abwehr einer, der gar nicht mit von der Partie war: Mister Zuverlässig Philipp Lahm, der Unersetzliche.

Die Tatsache, dass es zum Jahresabschluss zuletzt nie richtig rund lief, soll nicht als Ausrede dienen. Da darf natürlich auch die zahlenmäßig gute Bilanz des Länderspieljahres 2008 nicht ganz so gut wegkommen, wie sie es auf den ersten Blick verdient hätte. Los ging es mit einer grottenschlechten ersten Halbzeit in Österreich. Am Ende stand ein 3:0 zu Buche, dessen Zustandekommen genauso rätselhaft bleibt wie das darauffolgende 4:0 in der Schweiz. Die Vorbereitungsspiele vor der EM zeigten ebenfalls eine wenig berauschende deutsche Mannschaft, die sich in den folgenden Wochen dennoch bis ins Endspiel arbeitete. Was gut begann, zeitweise erschreckende Züge annahm, um uns kurzzeitig wieder zu begeistern, endete schließlich mit der Feststellung, dass wir gegen Spanien schlichtweg keine Chance hatten. I just can’t help it: Aber irgendwie fühle ich mich unweigerlich ans Jahr 2002 erinnert, als eine in Vorhinein alles andere als hoch gehandelte deutsche Mannschaft Vizeweltmeister wurde, sich im Oktober gegen die Färöer blamierte und zum Jahresausklang von den Niederlanden vorgeführt wurde.

Ich gehe beileibe nicht als Teufel-an-die-Wand-Maler durchs Leben. Aber wenn eine englische B-Elf unverhofft an den Tempofußball ihrer heimischen Liga anknüpfen kann und ihren Gegner in den Rumpelfußball längst vergangener Tage zwingt, kann selbst ich dem Abend wenig Positives abgewinnen. Bleibt nur zu hoffen, dass Jogi Löw den gestrigen Abend ähnlich gesehen hat und sich nicht im Nebel des vermeintlich sehr guten Länderspieljahres verläuft. Baustellen gibt es genug: Gesucht wird weiterhin das optimales Innenverteidigerduo, Philipp Lahm braucht ein Gleichgewicht auf der gegenüberliegenden Seite, im Mittelfeld ist der Platz neben Michael Ballack weiter umkämpft, die Trochowski-Position längst nicht vergeben und ganz vorne betreiben die Herren Stürmer viel zu häufig ein freudiges Versteckspiel im gegnerischen Strafraum.

Die schnellstmögliche Qualifikation für Südafrika hat dennoch oberste Priorität. Denn je früher das Ticket in der Tasche ist, desto mehr Zeit bleibt, in bester „Jugend forscht“-Manier ein Team zusammenzustellen, das nicht den Weg der Vizeweltmeister von 2002 einschlägt. Und vielleicht darf man Béla Réthy dann auch wieder glauben, wenn er die Zuschauerzahl verkündet.

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