Donnerstag, 12. Februar 2009

Die Fünf-Prozent-Hürde gerissen

0:1 gegen Norwegen, die sechste Niederlage im 35. Länderspiel der Ära Löw. Fünf der sechs Bezwingerteams spielten in roten Trikots. Wer der Nationalelf jetzt einen Farbkomplex einreden will, liegt jedoch falsch. Gestern zum Beispiel waren es angeblich nur "fünf bis zehn Prozent", die den Unterschied machten.

Mittwochabend, 19:07 Uhr, irgendwo zwischen A44 und LTU-Arena. Uneingeweihte könnten leicht auf die Idee kommen, Düsseldorf bewerbe sich für die kommende Loveparade. Auf den Parkplätzen wimmelt es von Menschen in Neon-Regenjacken mit roten Leuchtstäben in der Hand (dafür sind sie jedoch mindestens 30 und sowohl clean als auch nüchtern). Hektisch weisen sie Hunderten von LED- und Xenon-Augenpaaren den Weg, bis alles wirklich an seinem Platz ist.

Diese Akribie könnte darauf hinweisen, dass sich Düsseldorf so sehr über 45.000 Zuschauer freut, weil ansonsten selten mehr 15.000 zum Fußball in die LTU-Arena pilgern. Doch wer Jahr für Jahr Zehntausende Grönemeyer-, Genesis- und Alles-was-sonst-noch-Rang-und-Namen-hat-Fans abfertigt, wird es wohl leicht mit ein paar Fußball-Zuschauern aufnehmen. Ihre Leuchtstäbe strahlen Ruhe und Routine aus, Düsseldorfs Parkplatzeinweiser verstehen etwas von ihrem Werk.

Warum all die Lobhudelei für ein paar Männer in orangen Westen? Es soll ja wenigstens etwas Positives von diesem Länderspielabend zu lesen geben. Denn schon beim Schließen der Autotür geht es los mit der Flut schlechter Nachrichten. Die erste kommt sofort von oben – es regnet in Strömen. Mein schwarzer Regenschirm aus dem 1-Euro-Laden, der schon beim reinen Betrachten die Frage aufwirft, wie man für einen Euro einen vernünftigen Regenschirm herstellen kann, liefert die passende Antwort gleich mit: Gar nicht. Ein paar Fasern halten tatsächlich das Wasser zurück. Ansonsten ähnelt er eher einem weitmaschigen Netz.

Meine viel zu alte und viel zu kurze Windjacke kapituliert schon nach wenigen hundert Metern. Das zähe Gemisch aus Regen, Schnee und Hagel ist einfach zu viel. Doch durchnässte Kleidung stellt bei weitem das geringste Übel dar, mit dem man sich bei einem Stadionbesuch in Düsseldorf Mitte Februar auseinandersetzen muss. Das Stadiondach war seit Tagen geschlossen geblieben, die Luft mächtig aufgeheizt worden. Von innen ähnelt die Arena einem Urlaubsflieger der namensgebenden Fluggesellschaft. Die angekündigten 18 Grad Lufttemperatur werden zumindest gefühlt um einiges übertroffen. Man könnte meinen, Jogi Löws Sponsor – ein großes Reiseunternehmen mit drei Buchstaben – habe all das veranlasst, um die hartgesottenen und kälteresistenten Norwegen zu schwächen. Aber bloß keine Extras, Herr Löw.

Der geneigte Zuschauer, der sich ursprünglich dafür entschieden hatte, dem Spiel einer Outdoor-Sportart beizuwohnen, fühlt sich also schon nach wenigen Minuten wie ein Hähnchen in der Imbissbude – massive Heizstrahler von allen Seiten, mit dem Unterschied, dass sich (noch) nichts dreht. Doch was bitte soll das für ein Stadionbesuch sein, wenn man sich drinnen (was in Bezug auf Fußball schon ein ziemlich abstraktes Wort ist) mindesten zwei von drei Schichten des gewohnten Zwiebellooks ausziehen muss, um den Anpfiff überhaupt noch mitzubekommen – ohne mit Pommes und Mayo auf einem Plastikteller zu landen?

Und halb neun beginnt dann tatsächlich das, was sich zuvor als Höhepunkt und Main Act des Abends angekündigt hatte: Deutschland gegen Norwegen, das aufgrund der sommerlichen Temperaturen kurz vor der Umbenennung in Südwegen steht. Das, was sich über 90 Minuten auf dem frisch verlegten Rasen abspielt, ist dann schlichtweg die Erfindung der Ereignislosigkeit. Ein Festival der Behäbigkeit. Ein Revival alter, eigentlich längst vergessener und vor allem verdrängter Tage. Es hat etwas von Island 2003, nur ohne Völler und ohne Weißbier, dafür mit Zuschauern im Stadion.

Die großzügig gerundeten 45.000 machen sich jedoch schon nach zwanzig Minuten auf die mentale Heimfahrt. Pfiffe sind zwar „populistische Scheiße“. Aber es gibt eben auch Tage, an denen sie zum einzigen Ventil angestauter Wut und Verständnislosigkeit werden. Ich selbst kann gar nicht pfeifen. Aber an Abenden wie diese könnte ich es problemlos lernen. Übung macht den Pfeifer.

Kurz vor der Halbzeit hat Deutschland seine beste Szene des Spiels. Der schmächtige Akteur mit der Nummer 20 auf dem Rücken fasst sich endlich ein Herz und zieht aus 30 Metern ab. Unaufhaltsam nähert sich das Spielgerät seinem Ziel, huscht an etlichen Verteidiger-Beinen vorbei und trudelt langsam dahin. Nach 34 Sekunden Flugzeit landet der Papierflieger schließlich im Mittelkreis, nur Zentimeter vom Anstoßpunkt entfernt. Welch ein Wurf! Welch ein Flugobjekt! Die Kurve tobt, der Werfer mit der herausragenden Falttechnik und dem beeindruckenden Auge fürs Spielgeschehen wird auf Händen getragen. ‚Michi K. Papierfliegerbastelgott‘, hallt es durchs weite Rund. Dann ertönt der erlösende Halbzeitpfiff. Es wird still. Alle schlafen wieder ein oder vertreten sich die Beine – reine Thrombose-Prophylaxe.

Selbst ein paar Hacker, ansonsten die personifizierte Umtriebigkeit, sterben am heimischen PC vor Langeweile. Was tun? Auf die ZDF-Homepage zugreifen und beim Politbarometer die Umfragewerte von CDU und SPD vertauschen? Auf SpOn vermelden, dass sich Bayern von Deutschland abspalten will? Oder vielleicht doch auf der Schalke-Website die Entlassung von Kevin Kuranyi ankündigen?

In Düsseldorf ist die deutsche Nationalmannschaft derweil keinen Schritt weiter gekommen. 71 Prozent Ballbesitz für Schwarz-Rot-Gold. Dank Grindheims 1:0 weist Norwegen einen unglaublichen Wert von sieben Ballkontakten pro Treffer auf. Bezeichnend, dass Keeper Jarstein so oft am Ball ist wie kein anderer seiner Kollegen. Bezeichnend, dass es selten Torchancen des Gegners sind, die ihn an den Ball kommen lassen. Bezeichnend, dass sich die anwesenden Fortuna-Fans kurz vor dem Gegentreffer den Gesangskanon unter den Nagel reißen und lauthals ihre 95er nach vorne treiben. „Fortuna“ heißt im Norwegischen wohl ungefähr soviel wie „auf geht’s ihr Roten, schießt ein Tor und setzt diesem Grottenkick die Krone auf“. Die Mannen in Rot gehorchten brav.

Klischees sind ja vermeintlich falsch, überflüssig und in Bezug auf Frauen und Mädchen häufig chauvinistisch angehaucht. Mehr als 70 Minuten lang habe ich mich also dafür gegeißelt, dass ich mich gefragt habe, ob die drei jungen Damen hinter mir nicht gerade viel lieber „Desperate Housewives“ gucken würden als dieses unterirdische Fußballspiel mitanzusehen. Doch dann ergreift eine von ihnen plötzlich das Wort und konstatiert mit frustrierter Stimme: „Da hätte ich auch zuhause bleiben können – ‚Desperate Housewives‘ gucken“. Puh, ich bin doch kein Unmensch.

Wenige Minuten vor dem Ende macht es Jogi Löw dann auf die türkische Art und bindet Mesut Özil bis an sein Lebensende an die deutsche Nationalmannschaft. Die Zukunft wird zeigen, ob dieser Abend der schlechten Nachrichten und Fügungen nicht doch etwas Positives an sich hatte. Zur zweiten Halbzeit war Andreas Beck gekommen und hatte ebenfalls sein Debüt gefeiert. Seine Leistung war nicht gerade hauptverantwortlich für diese Erkenntnis, aber er könnte endlich das Lahm-Pendant sein, das wir im Prinzip seit Erfindung der Viererkette suchen und bislang nicht annähernd gefunden hatten.

Jener hochgelobte Philipp Lahm verpasste dem Spiel im Interview sogar noch eine brisante verbale Note. „Fünf bis zehn Prozent“, ließ er verlauten, „fehlen bei einem solchen Spiel immer.“ Nicht unbedingt erleichternd, dass selbst 90 Prozent gegen zweitklassige Norweger, die zudem mit einer besseren B-Elf antraten, nicht zum Sieg reichen.

Heute bei der Arbeit bin ich dem Spar-Prinzip ausnahmsweise auch einmal gefolgt und habe alles 5 bis 10 Prozent langsamer gemacht. Ich fuhr also noch mit dem Kaffeewagen über den Stationsflur, als plötzlich meine Kollegen an mir vorbeizogen, wortlos ausstempelten und sich auf den Nachhauseweg machten. Was? Schon vier Uhr? Tatsächlich! Und das alles, weil es heute keine Sahnetorte zu verteilen gab, nur trockenen, abgepackten Kuchen von ALDI. Und wenn der auf dem Rollwagen liegt, kann ich mich irgendwie nie so richtig motivieren.

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