Auch wenn das Abstiegsgespenst allgegenwärtig ist: Wer die Gladbacher Raute im Herzen trägt, bleibt immer treu. Ein Bericht aus dem Borussia-Park.
Mond, Mars, Merkur, Jupiter, Venus, Saturn, Sonne und auch der DIN 1355 haben wir es zu verdanken, dass die Woche in unseren Breitengraden an einem Montag beginnt. Für denjenigen, der sein Herz an einem Bundesliga-Club verloren hat, dreht sich die ganze Woche jedoch nur um den Samstag, 15:30 Uhr.
Länderspielpausen wirken da doch eher als Therapie, gerade wenn das verlorene Herz einem Verein wie Borussia Mönchengladbach zugefallen ist. Starke Nerven, übermensch-liches Durchhaltevermögen und schier unglaublicher Optimismus müssen häufig die besten Freunde des Fans sein, der die „Raute“ im Herzen trägt. Ich bin erst 17 Jahre alt, aber schon an unzähligen Samstagen in den letzten Jahren, so gegen 17:22 Uhr, habe ich mich gefühlt, wie ein 68-jähriger.
Der letzte Samstag war mal wieder einer dieser Tage. Nach der Niederlage in letzter Sekunde beim Auswärtsspiel in Leverkusen musste ich nachdenkliche zwei Wochen damit verbringen, mich für das nächste Heimspiel gegen Frankfurt zu motivieren. Obwohl – spätestens drei Tage nach der Enttäuschung ist es wie bei einem Heroinabhängigen, der einige Tage ohne Drogen verbringen musste: Es juckt in den Fingern, die Lust auf Fußball wächst, die hoffnungsvollen Gedanken an das nächste Spiel mehren sich.
Länderspiele und der Gladbacher Bundesliga-Alltag sind wie Telenovelas und die Tagesschau – erst bekommt man eine heile Welt vorgespielt und wird dann abrupt in die oft so grausame Realität zurückgeholt. So war es auch beim Spiel gegen Frankfurt.
Um 14 Uhr nehme ich Platz auf meinem Sitz in der Nordkurve – Block 17A, Reihe 12. Meine Mutter, wie immer während meiner schon 12 Jahre andauernden Begeisterung für diesen Verein, an meiner Seite. Das Ritual ist dasselbe wie beim letzten Heimspiel gegen Hertha BSC Berlin, das mit 3:1 gewonnen wurde. Ich esse eine Käse-Schinken-Stange, meine Mutter eine Bratwurst, einen Streuseltaler teilen wir uns „brüderlich“ – so wie Leidensgenossen das nun einmal tun.
Aber nein, was ein Unglück! Der Verkäufer am Kamps-Stand war heute ein anderer. ‚Wenn das mal gut geht’, sagt meine Mutter.
Nachdem das Fohlen-Echo, die Stadionzeitung im Borussia-Park, durchgewältzt ist, steht die Uhr bei 14:38 Uhr. Jünter, das Maskottchen, läuft heiter durch die Fankurve, der Stadionsprecher versucht, die versammelten Fans, in Stimmung zu bringen.
Um Viertel vor Drei kommt Kasey Keller zum Warmmachen, die erste kleine Welle der Begeisterung schwappt durch die Arena. Als der Rest der Mannschaft den Platz betritt, herrscht erst einmal Verwirrung in Block 17 A, Reihe 12, Platz 1-2. Ein A-Jugendlicher in der Anfangself? Wo ist David Degen? Sonck wieder nicht im Kader? Unsere guten Augen und das gesunde fußballerische Fachwissen lassen uns sehen, wer genau spielt und wer auf der Bank Platz nehmen muss. Meine Mutter erkennt Schiedsrichter Kinhöfer, der sich mit seinen Assistenten an der Mittellinie warm macht.
Das Ritual in den letzten zehn Minuten vor Spielbeginn haben meine Mutter und Ich uns ausnahmsweise nicht selbst auferlegt. Zuerst ertönt eine Fanfare, alle schwenken ihre Schals und Fahnen in der Luft, die erste Gänsehaut meldet sich traditionell zu Wort. Aus „Go West, life is peaceful there“ wird „Oléeeee, super Vau-Eff-Ell“. Der Stadionsprecher verkündet mit tatkräftiger Unterstützung von 52.117 Fans (wenn man die Pfiffe der Frankfurter Anhänger mitzählt) die Mannschaftsaufstellung. Ob die Nummer 5, Marcell Jansen, nun ein Fußballgott ist oder nicht, darüber herrscht allgemeine Uneinigkeit. Weiter geht’s mit der Gladbacher „Nationalhymne“, der „Elf vom Niederrhein“. Mitgeklatschen kann diesmal niemand, weil alle kleine Transparente mit der Aufschrift „Ein Team“ in die Höhe halten, mitgesungen dafür umso lauter. Auch der Schluss, „…und geht das Spiel auf mal verlor’n, dann macht uns das gar nichts aus. Denn dann fahren wir zum Auswärtsspiel und machen einen drauf“, darf nicht fehlen. Obwohl hinter dieser Zeile inzwischen mehr Ironie als Selbstvertrauen steckt.
Das Spiel beginnt mit einem Paukenschlag: Marcell Jansen trifft mit einem wuchtigen Weitschuss die Latte – im Nachhinein sollte es aber eine dieser „Was-wenn-der-reingegangen-wäre-Szenen“ bleiben. In der elften Minuten aus beinahe heiterem Himmel das 1:0 für Frankfurt, stilles Entsetzen und aufmunternde Zurufe können gleichermaßen wahrgenommen werden. Die nächsten 73 Minuten kann man relativ leicht zusammenfassen. Gladbach ohne Ideen und ohne Durchsetzungsvermögen und die Frankfurter wurden nur noch durch einzelne Konter gefährlich. Der Borussen-Fan verschwindet allmählich in seiner Sitzschale, die Gefühle sind eine Mischung aus Trauer, Enttäuschung und Hoffnung. Die Einwechslung von Oliver Neuville, nach drei Monatiger Verletzungspause, ist es im Prinzip noch am meisten Wert genannt zu werden. Oder die zähe Zeitschinderei der passiven Frankfurter, die sie am Ende fast um ihren Lohn gebracht hätte.
Fünf Minuten vor Schluss dann so etwas wie die Wende. Kyrgiakos sieht Gelb-Rot, Gladbach in Überzahl und mit aufkeimender Hoffnung. Plötzlich ist es, als ob die gut 45.000 Anhänger der Borussia aus ihrer lähmenden Trance aufgewacht sind. Ich frage mich einfach nur: Warum kann man auf einmal derartig den Hebel umlegen? Die „Fohlen“ stürmen, als ob die Nordkurve sie magnetisch anziehen würden. Eine Minute vor dem Ende der 90 Minuten bringt der 18-jährige Debütant Marko Marin (mein Gott, der ist ja nur 5 Monate Älter als ich) eine Freistoß in den Strafraum, Insúa köpft ein zum erlösenden 1:1. Doch nach 12 Sekunden der puren Ekstase finde ich meinen Sinn für die Realität wieder – ein Punkt in einem Heimspiel gegen einen direkten Konkurrenten, das ist doch eigentlich zu wenig.
Als der Stadionsprecher verkündet, dass, aufgrund der erwähnten Zeitschinderei des Gegners, 5 Minuten nachgespielt werden, schwappt eine Welle der Euphorie durch das Rund, wie man sie selten sieht. „Vau-Eff-Ell, Vau-Eff-Ell“ tönt es von allen Tribünen, vielleicht könnte es doch noch ein Happy-End geben, die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. In der 93.Minute habe ich den Jubelschrei schon auf den Lippen, mir geht durch den Kopf wie gut die Welt aussehen würde, wenn Kahê den Ball im Netz unterbringe. Doch es bleibt beim Konjunktiv. Der Frankfurter Torwart meistert seine einzige Aufgabe mit Bravour, der Jubelschrei bleibt uns nur im Halse stecken.
In solch einer Lage ist der Adrenalin-Spiegel am Limit, der Blutdruck auf 180 und das Aggressionspotential am Anschlag. Als der Frankfurter Spycher zum gefühlten 184. Mal auf dem Boden liegt, möchte ich am liebsten eigenhändig auf den Platz rennen und…ich spreche es lieber nicht aus. Mit dem Abstieg vor Augen werden die Nerven desjenigen, der die Raute im Herzen trägt langsam schwach. Hätte ich während eines Fußballspiels meiner Borussia ein Langzeit-EKG am Körper, mein Arzt würde mir raten samstags um 15:30 Uhr lieber zuhause zu bleiben.
Kasey Keller verhindert in der 96.Minute noch die vollkommene Katastrophe, indem der mit einer Weltklasse-Parade wenigstens den einen Punkt festhält. Obwohl die Leistung der Mannschaft über weite Strecken wirklich nicht besser war als Zweitliga-Niveau, kann ich ihr irgendwie nicht richtig böse sein. Nach einem kurzen Applaus für diejenigen Spieler, die sich vor der Nordkurve für die Unterstützung bedanken, verlasse ich das Stadion mit meiner Mutter – mit gesenktem Kopf und leicht angefeuchteten Augen. Den Zug nach Hause verpassen wir, weil der Busfahrer die Abfahrt zum Bahnhof verpasst. Eine halbe Stunde vergeht, bis der nächste Zug uns endlich ins heimische Anrath bringt. Die Sportschau hat lange begonnen, wir dürfen uns nicht noch mal angucken, was sich am Nachmittag im Borussia-Park abgespielt hat. Die Erschöpfung ist wahrscheinlich mindestens so groß wie bei den Spielern.
Sechs Stunden waren vergangen seitdem wir um 13 Uhr das Haus verlassen hatten, sechs Stunden waren wir unterwegs, um geschätzte 13 Minuten mitreißenden Fußball und Emotionen zu erleben. In den Stunden nach dem Abpfiff fragt man sich immer nach dem Warum. Die Antwort ist eigentlich immer dieselbe: Man kann einfach nicht mehr anders, weil Fußball eben auch zur Droge werden kann. Und so sitze ich hier heute, nur zwei Tage danach, schon wieder in heller Vorfreude auf das Spiel gegen Schalke, das ich live mit Freunden im Stadion sehen werde. Warum? Weil trotz aller Enttäuschung die Liebe einfach zu groß ist, um von ihr wegzukommen. Ob die Elf, die am Samstag auf Schalke spielt das überhaupt weiß?
Montag, 2. April 2007
Immer wieder samstags
Eingestellt von Jannik um 20:31
Labels: Bundesliga, Erlebtes, Gladbach
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