Dienstag, 25. März 2008

Fohlengeflüster (20):
Liebevoller Punktgewinn

Radfahren mit Colautti, Estland mit Friend, Rasenmähen mit Raute – alles schon und gut. Die Besessenheit eines Fußballfans, nachfolgend gelinde als Liebe bezeichnet, findet ihre Erfüllung trotz vielseitiger Nebenschauplätze jedoch nur auf dem Fußballplatz. Wenn es neunzig Minuten lang um drei Punkte geht.

Über die „Ehe, die man irgendwann, an einem selten genau festzumachenden Zeitpunkt, mit einem Fußballverein eingeht“, habe ich mich ja schon letzte Woche ausgiebig ausgelassen. Doch irgendwie kommt es mir vor, als besitze diese vermeintliche Ehe viel mehr Gemeinsamkeiten mit einer harmonischen Wochenendbeziehung. Dass meine „Beziehung“ zur Borussia meist nur von Freitag bis Montag in solchem Maße ausgelebt wird, dass man überhaupt von Innigkeit sprechen kann, liegt aber vermutlich nicht an mir.

Bayern-, Bremen- und Bayer-Fans blicken nach einem Spiel ihrer Mannschaft in der Regel nur drei bis vier Tagen entgegen, die sie ohne ihren Verein des Vertrauens auskommen müssen. Je nach Erfolg dauert diese fußballerische Allgegenwärtigkeit in Bundesliga, Pokal und Europacup, ja sogar in der Nationalmannschaft, eine ganze Saison an.

Klar, ich könnte mich auch über die Eröffnung eines neuen Reha-Zentrums unter der Obhut der Borussia freuen – mir von meinem Hausarzt Krankengymnastik verschreiben lassen, um mir unter Umständen neben Roberto Colautti auf dem Hometrainer einen abzustrampeln. Ich könnte nach Estland reisen, um Rob Friend beim Länderspiel in Tallinn lautstark zu unterstützen – dabei aber durchaus einen grausamen Erfrierungstod sterben. Ich könnte sogar eine Raute in unseren verschneiten Rasen mähen – und dabei erkennen, dass die Fahne, die nach langem Unken und überraschend wenig Betteln jetzt doch im Garten weht, eigentlich genügt (wäre das mit den Geschenken früher bloß auch so einfach gewesen). Aber unterm Strich reduziert sich die Liebe zu einem Fußballverein allein auf neunzig plus manchmal zu wenige Minuten pro Woche. Zumindest sind dies die Stunden, in denen die Liebe ungehemmt in ihrer vollsten Erfüllung ausgelebt werden kann.

Wenn es dann endlich Montagabend ist, kennt die Welt kurzerhand kein Leid mehr. Acht Tage des ungeduldigen Wartens haben ein Ende. Ich habe mir sogar fast drei Stunden lang den „Pferdeflüsterer“ mit Robert Redford angetan, weil Pferde schließlich erwachsene Fohlen sind und dies an einem Ostermontag um drei Uhr nachmittags schier der einzig mögliche Bezug zu meinem Verein gewesen ist, der irgendwie greifbar erschien. Da zählt man wie ein Kind vor dem Flug in den ersehnten Sommerurlaub die verbleibenden Stunden bis zum Anpfiff und schon nach drei Minuten kommt einmal mehr die allseits beliebte und zugleich gehasste Frage auf: Warum tue ich mir das eigentlich an?

Wochenende für Wochenende wird sie in deutschen Stadien und Wohnzimmern wohl häufiger gestellt als die nach dem allgemeinen Sinn des Lebens. Vermutlich hat sie noch seltener eine Antwort erhalten als der evolutionäre Aufklärungsversuch, ob nun Henne oder Ei zuerst ihr Unwesen auf dieser Welt trieben.

Nach dreizehn Sekunden zückt Schiedsrichter Herbert Fandel bereits die erste gelbe Karte. Empfänger ist Rob Friend nach einem Allerwelts-Ellbogencheck, der in seinem schmerzlichen Ausmaß eher das Niveau eines normalen Händedrucks erreicht haben dürfte. Neunzig Minuten lang wird der Kanadier mit der Last dieser Verwarnung durch den Aachener Tivoli traben. Bis zum Spielende macht er nur noch selten so sehr auf sich aufmerksam.

Die Aufmerksamkeit vor 20200 Zuschauern lenkt nur drei Minuten später vielmehr die Gladbacher Hintermannschaft auf sich. Ein Pass in die Nahtstelle von Krontiris, ein Querpass von Nemeth und schon hat Ebbers die leichteste aller Aufgaben und muss den Ball aus kurzer Distanz nur noch ins Tor schieben. Bögelund hatte beim kläglichen Versuch einer Abseitsfalle wertvolle Meter auf den späteren Torschützen verloren. An die zwanzigtausend Fans mit Hang zur Polemik sind aus dem Häuschen und sehen fortan Zweitligafußball vom Feinsten: Blutgrätschen im Überfluss, wütende Wortgefechte und unterm Strich nur wenige Torchancen.

Fast jeder Steilpass findet keinen Abnehmer und landet im Toraus. Der vor Schnee und Regen geradezu triefende Rasen macht aus dem sanftesten Kurzpass einen optimistischen, viel zu weiten Ball in die Gasse. Aber immerhin kann das Spiel überhaupt stattfinden. Noch am Morgen wäre der Tivoli glatt als Winter-Wunderland durchgegangen. Besorgt hatte ich am Küchenfenster gestanden und gebetet, dass die verrückten Schneestürme bald ein Ende nehmen würden. Nach einer gespielten Viertelstunde wünsche ich mir bereits, dass meine Gebete irgendwo im Schneetreiben auf ihrem Weg zum Wettergott verloren gegangen wären.

Die Aachener „Kartoffelkäfer“ (was für ein Furcht erregender, liebevoller Spitzname) werfen ihre einzige Stärke in die Waagschale. Schaum vorm Mund, Ärmel nach oben – und schon fällt der Borussia nichts mehr ein, was sie der mittelrheinischen Aggressivität entgegensetzen könnte. Jos Luhukay hält nach dem Spiel fest, dass seine Jungs zu Beginn einfach „nicht in die Zweikämpfe gekommen“ seien. Ok, der Fußball besitzt nun mal seine eigene Sprache. Wie man jedoch partout „nicht in die Zweikämpfe kommen“ kann, ist mir immer noch ein Rätsel. Wären Zweikämpfe ein Stau auf der Autobahn, könnte ich diese Verschlossenheit ja noch nachvollziehen. Aber für mich ist das Duell Mann gegen Mann eher eine Türklinke, die man einfach nur runterdrücken muss. Mehr nicht. Und verschlossen ist diese Tür auch nie. Man muss schlichtweg hindurchgehen.

Im weiteren Verlauf stellt Marin zwar seine gute Technik unter Beweis und gehört erneut zu den Gladbacher Aktivposten. Aber auch sein Hang zu Sisyphosdribblings und die Schusskraft eines Sechsjährigen dürfen einmal mehr bewundert werden. Wenigstens Alex Voigt treibt mir einige Sorgenfalten aus dem Gesicht. Als Paauwe-Ersatz vor der Abwehr liefert er eine sowohl defensiv als auch offensiv ordentliche Vorstellung ab. Trotzdem kommt die Alemannia in der Anfangsphase zu zahlreichen Gelegenheiten, vornehmlich bei Kontern.

Marcel Ndjengs Leistung erreicht erneut allenfalls Zirkus-Niveau. Leider sind technische Kabinettstückchen und Stehversuche in einer gefluteten Manege nicht gefragt. Zurecht muss er in der Pause Sharbel Touma weichen, der nach zwanzig, fünf und dreißig Minuten Einsatzzeit diesmal wenigstens über die halbe Distanz sein Können unter Beweis stellen darf.

Ich habe das Aachener Publikum schon oft gelobt und mir eine ähnliche Vielfalt und Lautstärke, was die Anfeuerungsversuche angeht, auch für unsere Nordkurve gewünscht. Was die Gelb-schwarzen jedoch diesmal gesangstechnisch rüberbringen, spiegelt genau die Spielart ihrer Mannschaft wider. Außer von „Hurensöhnen“ und „Wichsern“ erfährt man herzlich wenig. Wenn man die Qualität an anderen Tagen mit der Tagesschau vergleichen kann, erreicht sie heute Abend allenfalls RTL II-Niveau.

Vielleicht geht meine Empfindung auch in diese Richtung, weil man es als Gladbach-Fan nicht in derartigem Maße gewohnt ist, dass die eigene Mannschaft und einzelne Spieler aufs Übelste beschimpft werden (wie zum Beispiel ein Anhänger des FC Bayern es sein dürften). Dass die Diffamierung des Gegners neben der Huldigung einzelner Spieler, gesungener Feierorgien und der kollektiven Anfeuerung des eigenen Teams jedoch in jedem Stadion eines der bedeutenden Genres beim Fangesang repräsentiert, tangiert mich in diesem Moment nur peripher. Was Gladbach-Fan tut, ist schließlich immer wohlgetan. Auch wenn es dann Aachen-like ebenfalls unter die (meist Kölsche) Gürtellinie geht.

Die temporeiche, bissige und chancenarme Partie der ersten Hälfte birgt im zweiten Durchgang wenigstens einen Tick mehr an spielerischer Klasse, büßt dafür etwas von ihrem teils enormen Tempo ein, bleibt aber genauso umkämpft. Die Akteure bewegen sich dabei meist am Rande des Erlaubten und Ansehnlichen, überschreiten jedoch selten seine Grenzen. Fandel vermerkt bis zum Spielende die keineswegs gewaltsam anmutende Zahl von fünf gelben Karten in seinem Notizblock, von denen drei zudem äußerst fragwürdig bleiben. Das Spiel der Borussia ähnelt nach der Pause ein wenig der Verteilung der Karten (2:3): Sie erarbeitet sich ein Übergewicht, bewegt sich aber allein am Rande einer Wende und kann sie trotz sich häufender Gelegenheiten nicht in die Wege leiten.

Friend hängt indes weiter in der Luft. Touma kann dagegen etwas mehr überzeugen als Ndjeng. Zudem finden Neuville und Rösler allmählich zu ihren bewährten Stärken. Eine Koproduktion der beiden zaubert nach 56 Minuten das erste Mal einen Torschrei auf die Lippen. Nachdem Rösler im Strafraum schön abgelegt hatte, klatscht Neuvilles eigentlich perfekter, aber letztlich zu genauer Schuss aus elf Metern an die Latte. Marin ist seinem Premierentor kurz danach wieder einmal nah, scheitert jedoch an der Größe des Tores, das dreißig Zentimeter höher sein müsste für seinen guten Versuch, beinahe aus dem Stand abgefeuert.

Als sich meine Gedanken allmählich schon wieder mit der Bedienung der Waschmaschine beschäftigen und die vier Spiele währende Ungeschlagenheit ihrem Ende ins Gesicht sieht, reißt es uns zehn Minuten vor dem Ende doch noch von der Couch. Der eingewechselte Coulibaly steckt mit gutem Auge zu Neuville durch, der im Zweikampf mit dem behäbigen Olajengbesi seine Klasse samt Erfahrung ausspielt und Stuckmann mit einem flachen Schuss in die kurze Ecke kaum eine Chance lässt. Sein zehntes Saisontor nährt indes die Hoffnung auf eine aus deutscher Sicht nicht borussenlose Europameisterschaft. Auch wenn er altert, es wäre dem kleinen Mann mit dem traurigen Blick zu gönnen.

Ein einziger Treffer, die beste Aktion des Spiels, entschädigt prompt für alles, was zuvor nur begrenzt für Freude gesorgt hatte. Letztendlich lebt Fanliebe vielleicht von noch weniger als neunzig Minuten Fußball. Manchmal versprüht ein einziges Tor genügend Glücksgefühle, um die Woche bis Freitag ohne einen Anflug von Ungeduld zu überstehen. Obwohl ich ehrlich sein muss: Wäre es beim 0:1 geblieben, ich hätte spätestens ab Freitag trotzdem wieder voller Vorfreude auf die Partie gegen Koblenz geblickt – weil Auswärtsspiele eben ein langes Telefonat mit der großen Liebe sind, während Heimspiele im Vergleich dazu meist ein aufregendes Rendezvous darstellen.

Ich weiß gar nicht, was mich zu dieser schnulzigen Metaphorik rund um die Vereinsliebe verleitet, aber es muss wohl eine gewisse innere Zufriedenheit und Gelassenheit nach dem Unentschieden in Aachen sein.
Schließlich hat die Borussia an diesem Spieltag nur einen Punkt auf Platz vier eingebüßt, den Vorsprung auf Platz zwei gehalten und ist seit nunmehr fünf Partien ungeschlagen. Wenn ein Spiel eigentlich nur halbwegs Zufriedenheit hervorruft, dann nimmt man dankend das Positive mit, streicht die negativen Momente aus dem Gedächtnis (bzw. verschiebt sie weit nach hinten) und geht frohen Mutes in die Länderspielwoche.

Und vielleicht braucht man im Rhythmus von vier Spielen, besonders nach drei so sorglosen, unspektakulären Siegen ohne Gegentor, immer wieder einen kleinen Kniff in den Unterarm, damit man zwischen den geistig in die Wege geleiteten Planungen für die Aufstiegsfeier und dem bereits in Angriff genommenen Feinschliff am Bundesligakader nicht vergisst, dass auf dem Weg zurück ins Oberhaus noch einige Steine vor uns liegen werden. Also nehme ich diese Erkenntnis ebenfalls dankend mit. Ohnehin war das Derby in Aachen weder Kreuzigung noch Auferstehung für Gladbach, sondern eines von 34 Spielen, das allein aus geografischen Gründen seinen Reiz geschöpft hat.

Da die sechs Teams, die derzeit um den Aufstieg kämpfen, sich bis zum Saisonende nie im Gleichschritt bewegen werden, bleibt zum Schluss wieder einmal festzuhalten, dass sich die Borussia in diesem erlauchten Kreis seit Monaten am konstantesten präsentiert. Nur Koblenz und Hoffenheim haben aus den vergangenen fünf Partien mehr Punkte mitgenommen. Auf Platz drei dieser Interimstabelle steht die Borussia. Mit geschlagenen drei Punkten Abstand folgt der 1.FC Köln.

Der Aufstiegskampf gleicht einmal mehr einem Wellenbad mit immer wiederkehrendem Ziehharmonika-Effekt. Nun gilt es den Kopf stets über Wasser zu halten und am Ende den lautesten Ton von sich geben.

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