Sonntag, 1. Juni 2008

EM-Tagebuch (4) -
Wo ein Neuville ist, ist auch ein Weg

Zwei späte Tore retten die letzte Woche vor Beginn der EM. Dazu ein schwitzender Löw und eine strahlende Kanzlerin.

Stellen wir uns vor, Marcell Jansen hätte sich gestern nicht in der 74. Minute auf links durchgesetzt, hätte nicht Oliver Neuville so bedient, dass dieser nur noch einschieben musste. Stellen wir uns vor Marcell Jansen wäre acht Minuten später nicht kurz vor dem Strafraum gelegt worden, und Michael Ballack hätte nicht die Lücke in der serbischen Mauer gefunden und das entscheidende 2:1 erzielt. Was wäre das für eine Woche geworden.

Im Fußball kann man sich für Schönspielerei nichts kaufen. Es zählt die Effektivität vor dem Tor und – noch drastischer – im Prinzip am Ende nur das Ergebnis. Jogis Jungs hätten gestern früh in Führung gehen, den Rückstand aus der 19. Minute am besten gleich wett machen können. Wenn sie schon nicht gezeigt haben, dass sie spielerisch und taktisch bei den berühmten 100% sind, dann wissen wir jetzt wenigstens, dass die Moral stimmt und der Wille vorhanden ist, auch fünfzehn Minuten vor dem Ende noch gegen eine serbische Betonwand anzulaufen, um den Ball irgendwie ins Tor zu bugsieren.

Ohne Lokalkolorit geht ein Heimspiel der Nationalmannschaft selten über die Bühne. Pfiffe ertönten bei Kevin Kuranyis Auswechslung, die wohl vom eingefleischten Schalker Publikum stammten und sich eher gegen die Herausnahme als gegen den unterirdisch schwachen Stürmer richteten. Oliver Neuville ließ die richtige Antwort folgen, auch wenn sein Treffer nicht gerade einer der Marke „höchst sehenswert“ war. Es bleibt nicht aus, dass ich mich über die quasi Gladbacher Co-Produktion zum 1:1 besonders gefreut habe. Der Ur-Gladbacher Jansen legt dem Wahl-Gladbacher Neuville auf. Für mich ist Neuville nun Stürmer Nummer vier. Vielleicht nicht wegen seiner Gesamtqualitäten, sondern eher aufgrund seiner Fertigkeiten im Hinblick auf ein großes Turnier. Denn als Joker hat er sicher mehr drauf als Kuranyi, der nach der Grottenleistung so weit von der Startelf entfernt sein dürfte, wie Klagenfurt von Gelsenkirchen.

Pfiffe gehörten auch an anderer Stelle erneut zu den größten Dornen in meinem Auge. Anscheinend braucht es schon eine WM im eigenen Land, um den Funken einmal von den Rängen auf den Platz überspringen zu lassen. Erst begleiten 54000 die DFB-Elf mit Pfiffen, als es dann auf einmal besser läuft, stehen sie auf ihren Plätzen, schreien lauthals „steht auf, wenn ihr Deutsche/Deutschland seid“ und alles ist wie am Ende von Benjamin-Blümchen-Kassetten „Friede, Freude, Eierkuchen“. Letzteren möchte ich den Pfeifwütigen jedes Mal ins Gesicht schmeißen, wenn sie mit ihrem Gepfeife indirekt eine Geld-zurück-Garantie fordern.

Unterm Strich glätten zwei Tore also die Wogen einigermaßen. Lassen wir die Gedanken an eine Niederlage einfach mal gleichgültig außen vor. Bereitet sowieso nur Bauchschmerzen. Jogi Löw hat gestern sicherlich den Fehler gemacht, dass er den serbischen Stärken das Wasser reichen wollte, anstatt ihre Schwächen elegant auszunutzen. Klingt a lot like Heidi Klum, soll aber heißen, dass es falsch war, einem Vidic mit dem kopfballstarken Kuranyi beikommen zu wollen. Und so ist es wenig verwunderlich gewesen, dass die beiden Treffer nach flachen Kombinationen zustande kamen (Jansen wurde vor dem 2:1 ja nicht zufällig gefoult), denn da lag mit Sicherheit der Schlüssel zum Erfolg.

Auch wenn ihm der Schweiß bei Monica Lierhaus nur so aus den Poren floss, wirkte Jogi Löw ziemlich gelassen, höchstens etwas erleichtert. Er hat ja recht, wenn er sagt, dass noch nicht jeder auf den Punkt vorbereitet sein kann/darf/soll. Schließlich beginnt die EM erst in einer Woche, alles ist also im Lot. Zumal unsere Konkurrenten sich nur peripher mit Ruhm bekleckert haben.

Frankreich trotzt überragenden Paraguayanern ein 0:0 ab. Spanien besiegt das übermächtige Peru in letzter Sekunde mit 2:1. Portugal schießt Georgien mit 2:0 aus dem Stadion (ok, mehr haben wir gegen die auch nicht geholt). Und zu guter Letzt holt Gruppengegner Kroatien ein 1:1 gegen die schier übermächtigen Erben Puskás’. Also bitte, da hätten wir selbst bei einem Nicht-Sieg gegen Serbien getrost die Kirche im Dorf lassen können.

Um noch mal auf Jogis Löws Schweißausbruch zu sprechen zu kommen: Vielleicht lag es auch an der „Frau Bundeskanzler“ (O-Ton Monica Lierhaus), die ihm die Analyse des Spiel süffisant abnahm und auch nicht verraten wollte, wer denn ihr heimlicher Liebling sei. Naja gut, zu Zeiten eines Helmut Kohl wäre so etwas auch nicht drin gewesen, da wär’s dem Jogi ja noch mehr aus den Poren geströmt im engen Fernsehstudio. Deswegen war der Auftritt der Kanzlerin gestern irgendwie sympathisch. Die hat mit Sicherheit auch nicht gepfiffen. Schämt Euch, Schalker!

Marko Marin durfte sich am späten Abend ausführlich im Sportstudio präsentieren. Zumindest hätte er das gedurft, beließ es aber bei 3- bis 5-Wort-Sätzen, gegen die Lukas Podolski eher noch als großer Philosoph unter den Fußballern durchgeht. Nach ein paar Minuten war Frau Müller-Hohenstein durch mit ihren Fragen, deren Antworten stets mit „Ja gut“ begannen und ungefähr so endeten: „Ich freue mich… blablabla.“ Marko, das üben wir noch mal.

Und so gehe ich – wie immer eigentlich, das dürfte mein Fehler sein – ganz optimistisch und untypisch deutsch in die letzte Woche vor dem Polen-Spiel. Lasst mir doch die Vorfreude.


Die Kopfnoten:

Lehmann: Ohne jede Prüfung, beim 0:1 zwar getunnelt, aber machtlos. Genauso bei Lazovic’ Lattenknaller nach der Pause. Eine beschäftigungslose 3, weil unterm Strich fehlerlos.

Jansen: Wenig gefordert in der Defensive, etwas dilettantisch bei der Hereingabe, die zum serbischen Lattentreffer führte. Ansonsten stark in der Offensive. Schon in Hälfte eins fast mit einem Assist, der im zweiten Durchgang folgte. Sein herausgeholter Freistoß führte um 2:1. Zog sich eine Risswunde zu, musste raus. Macht eine gute 2,5.

Mertesacker: Ebenso unterfordert in der Defensive. Hätte vor dem 0:1 vielleicht etwas auf de Ballführenden rausrücken können. Zur Pause durch A. Friedrich ersetzt und geschont. Beschäftigungslose 3.

Metzelder: Verbessert, aber lange nicht gut. Der Fehler vor dem 0:1 ist und bleibt ein Fehler. Weiterhin Wackelkandidat, gab sich jedoch im Interview selbstbewusst und ehrlich. Trotzdem eine 4.

Lahm: Harmlos in der Offensive, nur ein Vorstoß, der in Erinnerung blieb, aber folgenlos verpuffte. Zur Pause kam Podolski. Hinten sicher, aber wenig geprüft. Deshalb 3,5.

Frings: Irgendwie noch nicht ganz der Alte im Aufbauspiel. Engagiert wie immer, mit wenigen Offensivaktionen, auch am 0:1 beteiligt. eine 3,5 mit Luft nach oben.

Schweinsteiger: Nach dem rüden Foul gegen Weißrussland Gott sei Dank wenigstens in der Startelf. Hat Podolski im Nacken, muss sich steigern. Grottige Eckbälle, wenig Durchschlagskraft, es fehlt die Unbekümmertheit. Unterm Strich eine 4.

Fritz: Nicht wirklich überzeugend als Schneider-Ersatz. Hat in anderen Spielen gezeigt, dass die Rolle zu ihm passt. Wackelkandidat für die Startelf gegen Polen. Da geht viel mehr. Eine 4.

Ballack: Unumstritten bester Mann auf dem Platz. Sowohl spielerisch als auch physisch präsent. Vielleicht auf der Höhe seines Schaffens. Krönte eine Klasse-Leistung mit dem Siegtreffer zum 2:1. Kann so der große Leader ein hoffentlich erfolgreichen deutschen Mannschaft werden – 1,5.

Gomez: Mit ungewohnter Nachlässigkeit vor dem Tor. Hätte das 1:1 erzielen müssen. Ansonsten auffällig, aber zu ungenau und etwas glücklos. Auch ihm sitzt Podolski im Nacken. Ist jedoch mit dem Bayern-Spieler erster Anwärter auf den Platz neben Klose – macht am Ende eine 3,5.

Kuranyi: Chancenlos, fand kaum statt. Hat sich so wohl alle Möglichkeiten auf die Startelf verbaut. Muss sich in der Joker-Rolle eher an einem Neuville orientieren. Es bleibt nichts anderes als eine 5.

Podolski (ab 46.): Starker Beginn, gewohnt auffällig. Ließ so stark nach, wie er anfing. Kämpft an mehreren Fronten um einen Stammplatz, ohne ihn fehlt irgendetwas. Gestern befriedigend – 3.

A. Friedrich (ab 46.): Stand kaum im Mittelpunkt. Bei der größten serbischen Chance in Hälfte zwei weder schuldfrei noch schuldlos. Eine standardmäßige 3.

Neuville (ab 70.): Agil, stand beim 1:1, wo er stehen musste. Joker Nummer eins im Sturm. Muss in manchen Szenen noch präziser werden. Keine Wertung.

Rolfes (ab 70.): Weder im Mittelpunkt noch abwesend. Kann sowohl als Ballack- als auch als Frings-Ersatz agieren. Keine Wertung.

Odonkor (ab 79.): Ein guter Auftritt auf rechts, ansonsten in seinen elf Minuten wenig auffällig. Bleibt Joker. Keine Wertung.

Westermann (ab 84.): Kam für den angeschlagenen Jansen. Keine Aktionen mehr. Ohne Wertung.


Aufstellung:
Lehmann – Jansen (84. Westermann), Mertesacker (46. A. Friedrich), Metzelder, Lahm (46. Podolski) – Frings (70. Rolfes), Schweinsteiger (79. Odonkor), Fritz, Ballack - Gomez, Kuranyi (70. Neuville)

Tore:
0:1 Jankovic (18.), 1:1 Neuville (74.), 2:1 Ballack (82.)

Gelbe Karten: Ivanovic

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