Montag, 30. Juni 2008

EM-Tagebuch (41) -
6:7

Am Ende viel Moll, ein wenig Dur – die EM ist vorbei. Was für die deutsche Mannschaft gut begann, zwischenzeitlich erschreckend schlechte Züge annahm, um dann wieder in voller Blüte zu stehen, endete gestern mit einer Niederlage. Es war die siebte im 13. großen Endspiel der Geschichte. Deutschland wartet seit 12 Jahren auf einen großen Titel. Die längste Durststrecke, seitdem Beckenbauer, Netzer und Co. 1972, 18 Jahre nach dem Wunder von Bern, den ersten EM-Titel holten.

Es war alles angerichtet gewesen. Besonders der Pott strahlte in seinem neuen Glanz, mit rot-gelben Bändern am einen und schwarz-rot-goldenen am anderen Henkel wunderbar in Szene gesetzt. Die UEFA hatte dahingehend leichtes Spiel – bei einem deutschen Sieg einfach noch ein, zwei schwarze Bänder dranpappen und bei einem spanischen… Als ich heute Morgen um kurz nach fünf für ein paar Minuten wach lag, schwirrte mir Michèl Platini durch den Kopf. Mit zufriedenem, leicht diabolischem Lächeln riss er die schwarzen Bänder um 22:38 Uhr vom Pokal. Der Traum war geplatzt, die dritte Pleite im sechsten EM-Endspiel perfekt. Die Veranstalter hätten symbolisch nur noch die Requisiten der Abschlussfeier herankarren und auch die schwarz-rot-goldenen Ballons in den Wiener Abendhimmel steigen lassen müssen.

Die Griechen müssen derweil ein glückliches Volk sein. Ein einziges großes Finale erreicht und prompt gewonnen. Ich bezweifle, dass Griechenland in den nächsten fünfzig Jahren noch einmal Ähnliches vollbringen wird. Das heißt im Umkehrschluss, dass sie zusammen mit Dänemark und – ausgerechnet – England zu den drei glücklichen Nationen in Europa zählen, die alle großen Endspiele ihrer Länderspielgeschichte für sich entschieden haben. Kein Vize-Gerede, kein Rumgeschnulze von wegen „Welt-/Europameister der Herzen“. Finalniederlagen sind so bitter, dass sie die Freude über fast ebenso viele Titel beinahe eliminieren. Die deutsche Mannschaft hat nicht unverdient verloren. Doch wie kann man so forsch und überlegen die ersten zehn, fünfzehn Minuten bestreiten, und dann so den Faden verlieren? Die Spanier spielten bereits lange Pässe ohne Ende, wirkten nervös, spielten Fehlpässe. In den letzten 75 Minuten war man Derartiges allein von der deutschen Mannschaft gewohnt.

Spanien ist zweifelsohne der Sieger, den dieses Turnier verdient hat, doch inwiefern soll das trösten? Wer ins Finale kommt, will verdammt noch mal auch gewinnen, Rumpelfußball, Glück, technische Unterlegenheit hin oder her. Wer im Halbfinale scheitert, ist ganz konform ausgeschieden. Der Unterlegene im Endspiel ist und bleibt der Verlierer, der so leicht der große Gewinner hätte sein können.

Die Spanier brauchten nicht einmal eine überragende Leistung, um uns zu schlagen. Kaum großartige Geistesblitze waren vonnöten, um den Pott erstmals seit 44 Jahren auf die iberische Halbinsel zu holen. Fabregas, Ramos, Silva – allesamt vergleichsweise blass, keiner mit positiver Zweikampfbilanz, alle drei mit für ihre Verhältnisse wenigen Ballkontakten. Letzterer leistete sich sogar noch eine Tätlichkeit, einen Kopfstoß gegen Podolski, der von Schiedsrichter Rosetti ungeahndet blieb. Doch unsere Fehler waren einfach zu eklatant, um hinten sicherer zu stehen und vorne mehr zu reißen. Mit einem Metzelder und einem Mertesacker in dieser Verfassung lassen sich wohl keine Turniere gewinnen. Ich dachte bis vor einiger Zeit, wir hätten da ein Duo parat, dass die Hand an der Klinke der Tür zur Weltklasse postiert hat. Jemand muss da übelste Augenwischerei betrieben haben. Dann ein Lahm, der sich Böcke leistet, die man Mr. Zuverlässig nie zugetraut hätte und ein Arne Friedrich, der mit seinen Fertigkeiten allenfalls in die Geisterbahn gehört oder in den Wald zum Holzhacken.

Wenn dann das vermeintliche Prunkstück des deutschen Turniers, unsere Offensive, auch noch einen kollektiven Betriebsausflug nach Nirgendwo unternimmt, sinkt selbst die Hoffnung darauf, mit einem Tor aus heiterem Himmel die Verlängerung zu erzwingen, auf den Nullpunkt. Wir müssen jetzt nicht zum Rundumschlag ausholen, von irgendwelchen Neuanfängen sprechen. Den Erfolg, das Finale erreicht zu haben, nimmt uns keiner. Wenn wir behaupten, die zweitbeste Mannschaft des Kontinents zu sein, haben wir wenigstens ein schlagkräftiges Argument im Ärmel und können stolz die Eintrittskarte vom Endspiel vorzeigen, auf der neben der Flagge des Siegers auch unsere eigene abgebildet ist. Wir brauchen keine Verjüngungskur. Die „Alten“ sind entweder so alt, dass sie hoffentlich von alleine gehen werden (Lehmann), oder noch die Frische für mindestens zwei weitere Jahre Führungsarbeit besitzen (Ballack, Frings, Klose). Mit wem sollten wir auch aufs Neue etwas säen, nachdem wir den Wald gerodet haben?

Lahm, Mertesacker, Schweinsteiger und Podolski sind allesamt noch nicht einmal 25 Jahre alt, werden sich demnach erst nach der EM 2012 langsam ihrem Zenit annähern. Wir müssen einfach das „Material“ hegen und pflegen, das uns zur Verfügung steht: Einem lernfähigen Thomas Hitzlsperger noch einiges beibringen, Mario Gomez die Zeit geben, die er augenscheinlich noch braucht, einen erfrischenden Techniker wie Marko Marin ganz behutsam und geduldig ans große Geschäft heranführen und eine Abwehrhoffnung wie Heiko Westermann irgendwie von außen in die Schalker Innenverteidigung lotsen.

Doch der Länderspielzirkus bietet Gott sei Dank ohnehin keine Gelegenheit, langfristig in irgendwelche Löcher zu fallen. Am 6. September beginnt das Rennen um die Plätze für Südafrika 2010, ganz sachte mit einem Spiel in Liechtenstein. Die Pflichterfolge gegen Finnland, Wales, Aserbaidschan und Liechtenstein wird es schon brauchen, um gegen Russland nicht unter riesigem Zugzwang zu stehen. Denn nur der erste qualifiziert sich direkt. Die Quali wird also kein Zuckerschlecken.

Die Niederlage von gestern hat mich nicht fürs Leben gezeichnet. Die Konstellation, dass Spanien einfach besser war, wir trotzdem nur 0:1 verloren haben, ist dennoch nicht wirklich wohltuender gewesen als eine bittere Niederlage mit 2:3 in der Nachspielzeit. Auf die gute Miene zum bösen Spiel vor dem Brandenburger Tor freue ich mich nicht wirklich. So schön das Leben eines Menschen auch gewesen sein mag, auf seiner Beerdigung wird nie jemand in Jubelstürme ausbrechen, keiner wird jemals freudetrunken Fahnen schwenken. Es wird standesgemäß getrauert. So wie es sich gehört. Die deutsche Mannschaft hat gestern zwar nur ein EM-Endspiel verloren, es ist niemand gestorben. Doch „Danke“ sagen kann man auch mithilfe eines Statements im Fernsehen, dafür braucht es kein Eventfan-Event mit geschminkten Wangen und Oliver Pocher. Und wenn ich an Jens Lehmanns offensichtliche Enttäuschung denke, die er im Interview nach dem Spiel nicht annähernd verbergen wollte und konnte, kann ich mir vorstellen, dass nicht nur einer der 23 heute Mittag gerne etwas anderes tun würde, als mit gestelltem Lächeln in Berlin über den Catwalk zu laufen. Verständlich.

Doch diese Abhandlung soll nicht ganz in Moll enden, fürs Erste genug Trübsal geblasen. Wir haben gestern unser 13. großes Finale gespielt (wobei das noch ein schlechtes Omen gewesen ist). In Europa kann das niemand auch nur annähernd von sich behaupten. Nach uns folgt Italien – mit acht Endspielteilnahmen. Wir haben Platz eins in der ewigen EM-Tabelle behauptet. Man klammert sich ja krampfhaft an alles Aufmunternde. Auch wenn’s schwer fällt.


Die Kopfnoten gibt’s später. Denn obwohl ich es nicht befürworte, werde ich mir die gut gemeinte Leichenschau in Berlin anschauen.

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