Finale in T minus 78 Minuten und ich halt's nicht mehr aus.
Ich bin eigentlich zu alt dafür. Sonntagmittags raus gehen, auf den Fußballplatz, alle deutschen EM-Tore nachspielen bis zum Umfallen und vorsichtshalber schon mal die Treffer aus dem Endspiel einstudieren. Aber genau für diese Anlässe hält die deutsche Sprache schließlich das Wörtchen „eigentlich“ bereit. Die zwei türkischen Jungs um die 12,13 Jahre haben komisch geguckt. Etwas befremdet, als ich das Elfmeterschießen simulierte, meinen Bruder im Ballack-Trikot zum entscheidenden Elfer antreten ließ und das ganze kommentiert habe, als säße nicht Tom Bartels heute Abend in Wien auf der Pressetribüne, sondern ich selbst.
Mein Bruder hat das Down-Syndrom, ist geistig behindert. Ich weiß nicht, ob das etwas mit der Geduld und Muße zutun hat, die ihn durchs Leben trägt. Jedenfalls bewundere ich diese Geduld fast täglich. Besonders an Tagen wie diesen, die mich um Jahre altern lassen, allein schon, weil es so anstrengend ist, 15:23 von 20:45 abzuziehen, das Ergebnis in Minuten umzuwandeln und den Countdown zu aktualisieren, der seit heute Morgen in meinem Kopf gen Null läuft.
Auch beim zehnten Versuch, einen authentischen Ballack-Elfer in die Tormitte zu produzieren, lief er ohne Murren an, nur um mich, den hypernervösen kleinen Bruder zufrieden zu stellen. Man könnte jetzt denken, in diesem Gemütszustand – ruhig und geduldig – ginge der Tag irgendwann nach 22:30 Uhr für meinen Bruder zu Ende. Doch spätestens wenn der Ball dann rollt – ich finde, er könnte jetzt langsam mal damit anfangen, der Ball –, wirft er all diese Muße über den Haufen, ist Feuer und Flamme und zeigt, dass er das Temperament von seiner Mutter geerbt hat. Nicht von seinem Vater, dessen Gene haben sich da bei mir eher durchgesetzt. Spätestens ab der 78. Minute, es sei denn wir führen mit drei Toren oder liegen klar zurück, werde ich das erste Couchkissen verspeisen. Die Fingernägel sind radikal gekürzt, unabbeißbar. Dabei wachsen sie ja nach. Anders als Couchkissen.
Es ist bereits das fünfte Endspiel meines Lebens, circa alle 3,79 Jahre eins – aber nicht wirklich, denn 1990 war ich elf Monate alt, 1992 nicht einmal drei. Ich kann also behaupten, meine Endspiel-Bilanz ist ausgeglichen – ein Sieg 96, eine Pleite 2002, die mich nicht allzu sehr getroffen zu haben scheint. Denn außer Kahns Patzer und Neuvilles Pfostenschuss haben sich alle Details des Spiels innerhalb der letzten sechs Jahre aus meinem Gedächtnis verabschiedet. Vielleicht war es ein Verdrängungsreflex.
Das heißt, dieser Finaltag heute ist der erste seiner Art, den ich mit der ihm gebührenden Intensität wahrnehme – mit Sekundenzählen und sinnlosen Gedanken, vor lauter Nervosität einen Schnaps zur Beruhigung zu vertilgen. Wembley vor zwölf Jahren war schön. Ich saß auf dem Boden vor dem Fernseher, weiß noch, dass mein Vater die 95 Spielminuten fast ausschließlich damit verbrachte, meine neugeborene Cousine halbwegs ruhig zu stellen. Oliver Bierhoffs Torjubel ist seitdem allgegenwärtig, Béla Réthys Stimme ebenso. Ich finde, es ist an der Zeit, dass diese Szenen in den Hintergrund rücken, dass sich neue Jubelarien in den Vordergrund drängen, dass ich unseren Loréal-Managers endlich einmal vergessen kann. Obwohl er heute Abend auch wieder irgendwo rumschwirren wird.
Ich konnte in den letzten Jahren nicht wirklich auf die Vereinsmannschaft meines Herzens zählen. Das letzte Finale der Borussia liegt sogar schon 13 Jahre zurück, da war Wembley ’96 noch nicht einmal gezeugt. Die Nationalmannschaft hat demnach ein Monopol auf die Gefühle, die mich momentan auf Trab halten und um den Verstand bringen. Sie soll sich geehrt fühlen. Schließlich steht sie jährlich nur an 12-16 Tagen im Mittelpunkt, abhängig davon, ob die Jahreszahl durch zwei Teilbar ist oder nicht.
Der Klub des Vertrauens spielt dagegen mindestens 35-mal im Jahr die erste Geige. Wenn er Gladbach heißt, selten häufiger als das. Wir heißen ja nicht Manchester. Jedenfalls gibt es da mitunter Spiele, die vorbeigehen, ohne dass sie bleibende Eindrücke hinterlassen haben. Bei großen Turnieren der Nationalelf bleiben derartige Spiele Seltenheit. Es sei denn, einer der Gruppengegner hieße Österreich UND man wäre vor dem Aufeinandertreffen bereits fürs Viertelfinale qualifiziert.
Momentan sehe ich schlechte Omen überall: Das Ballack-Trikot meines Bruder löst sich auf, tut es der Wadenmuskulatur des Captains gleich. Aus „Ballack“ auf dem Rücken ist „alla h“ geworden. Dessen christliches Pendant wird uns heute beistehen müssen, wenn das etwas werden soll gegen schier übermächtige Spanier. Übrigens kann Ballack vermutlich spielen, derweil hat die Firma Edding das B, das C und den Bogen des K auch wieder zum Leben erweckt. Die Hoffnung lebt. Dann hat meine Großmutter Pudding gekocht – schwarz-rot-gold bzw. Schokolade-Rote Grütze-Vanille. Im Prinzip sehr nett, nur leider hat sie das bei dieser EM bislang genau einmal getan: Am 16. Juni vor dem Kroatienspiel.
Auf dass es diesmal gut gehe!
Zum Schluss will ich der Nachwelt einfach nicht das Produkt meines Sonntagnachmittages vorenthalten. Dank an meinen Bruder für den strammen Schuss in die Mitte, für den, der am Tor vorbeiging und für alle anderen Versuche, die es leider nicht in dieses Video geschafft haben. Das Tor ist übrigens ein Modell der Größe 2x5 - ich bin also nicht 2,38m groß, wie es den Anschein hat. Drehort ist der Kunstrasenplatz der Anrather Donkkampfbahn. Schade, dass das Vogelzwitschern im Hintergrund nicht mehr zu hören ist. Es hatte genau den beruhigenden Effekt, den ich jetzt dringend bräuchte.
Sonntag, 29. Juni 2008
EM-Tagebuch (40) -
Nervenspiel
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