Erleichterung über ein halb verpasstes Sommermärchen und die Angst vor Kneipenkiebitzen, die alles schlecht reden.
Auch wenn es damals eine Qual war: Im Nachhinein, besonders in diesen Tagen, bin ich nicht mehr so unglücklich, dass ich bis zum 23. Juni 2006 im Death Valley des Weltfußballs, in den USA, festsaß. Denn aus diesem Grund darf ich mich bei den emsigen Sommermärchen-Vergleichen bescheiden zurückhalten. Ich kann den Ruck, der damals durch das Land ging, einfach nicht nachhaltig beurteilen; kann mich nur an den Landeanflug auf Frankfurt erinnern, als man aus dem Flieger zahlreiche Äcker in Deutschland-Farben sah und ganze Hochhausfassaden in Fußball-Optik verkleidet waren.
Ich wurde mitten hinein geworfen ins kalte Wasser „Sommermärchen“, genoss es fußballerisch in vollen Zügen und wünschte mir erst Monate später, dass ich es etwas intensiver wahrgenommen hätte. Doch zwischen Schweden-Spiel und Argentinien-Krimi mussten nach zehnmonatigem Auslandsaufenthalt auch ein paar Resozialisierungsmaßnahmen drin sein.
Dennoch beäuge ich die Stimmung in diesen Tagen etwas kritisch. Der berühmte deutsche Pessimismus schlägt schon wieder viel zu hohe Wellen. Ich will gar nicht dran denken, was passiert, wenn wir Sonntag nicht gegen Polen gewinnen sollten. Spätestens dann werden wohl alle aufwachen, auch die gefürchtete „Ich hab’s doch gesagt“- Kompanie. Allein der Groß- und Einzelhandel versprüht Begeisterung – na gut, bei denen geht’s ja auch um einen Riesenbatzen Geld; da wär’ ich auch begeistert.
Der NDR rührt indes fleißig die Werbetrommel fürs Public Viewing auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg, Crunchips bietet seine besten Stücke mit Biergeschmack an und ALDI schmeißt ein Paar Autofahnen für 1,49€ raus. Während ich den günstigen Imitationen des Autos unseres Bundespräsidenten nicht widerstehen konnte (die entgegen aller Behauptungen selbst bei 93 km/h nicht schlapp machen), traue ich den Chips mit herbem Hopfengeschmack nicht so recht über den Weg.
Und mit Public Viewing braucht mir erst recht niemand zu kommen: 30.000 Leute – ein Drittel davon kreischende Teenies, die fragen, wo der Klinsmann eigentlich hin ist und über Schweinis Frisur philosophieren –, vor meiner Nase am besten noch eine Straßenlaterne, so dass die Torlinie beim alles entscheidenden Elfmeterschießen exakt abgedeckt ist und ich nur aufgrund des Jubels oder seines Gegenteils erahnen kann, wer gerade vorne ist. Doch nicht einmal darauf kann man sich verlassen: Wandelnde Litfasssäulen aus Schweiß, die erst merken, dass das 1:0 gar nicht zählte, als der Gegner auf einmal in Führung liegt – nein, danke.
Zur Sicherheit eine kleine Zusatzinfo: Ich leide nicht unter Berührungsängsten, bin weltoffen und scheue auch nicht das Bad in der Menge im Stadion.
Mit einer Kneipe inklusive Leinwand und frischem, bezahlbaren Bier kann ich mich da schon eher anfreunden, wenn da nicht die Horden von Mittfünfzigern wären, die jeglichen Erfolg der deutschen Mannschaft auch nach einem 8:1 im Endspiel gegen Italien noch als „pures Glück“ abstempeln und kritisch auf das eine Gegentor in der 78. Minute verweisen. Deshalb wird mir wahrscheinlich nichts anderes übrig bleiben, als auch dieses Turnier im heimischen Wohnzimmer zu verbringen, die Couchgarnitur vor lauter Fußball-Hospitalismus endgültig aufzuwetzen und anstelle von wildfremden Schweißraketen meinen Eltern und meinem Bruder in die Arme zu fallen.
Dienstag, 3. Juni 2008
EM-Tagebuch (6) -
Sommermärchen - not reloaded
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen