Der Bann ist gebrochen – 12 Jahre ohne EM-Sieg haben ein Ende. Wie die EM für mich in Holland los ging und dennoch gestern erst so richtig begonnen hat.
Das verschlafene Haelen in der Nähe von Roermond könnte glatt als holländisches Hoffenheim durchgehen. Zumindest hat es schon einmal die richtige Größe mit seinen 4000 Einwohnern. Und so hat es mich auch nicht sonderlich überrascht, am Samstag um kurz nach 18 Uhr in der kleinen Kneipe nur sechs fachsimpelnde Holländer anzutreffen. Irgendwann, als die Schweiz gerade mal wieder eine ihrer sensationell ungefährlichen Flanken in den Strafraum schlug, fiel der Name Podolska. Einer der sechs klärte seine Kollegen erst einmal auf, dass der Junge Podolski heißt. Ansonsten waren sie relativ still, selbst das Bier floss in Maßen.
Letzteres galt auf keinen Fall für den 66-jährigen Sportsfreund Jakob, dessen genauer Zusammenhang mit unserem Handballverein mir nicht mehr einfallen will. Jedenfalls hatte er einen Zug drauf (beim Trinken), der ihm den Spitznamen "ICE" verleihen sollte und eine derbe Mitschuld an meinem verkorksten Sonntagmorgen besaß. Zu allem Übel ist Jakob auch noch halber Holländer, weshalb das in der Landessprache unserer Gastgeber bestellte Bier immer äußerst zügig vor unserer Nase stand und der „Meneer“ uns zuvorkommend behandelte. An einem gewissen Punkt habe ich aufgehört zu zählen – Jakob zahlte und dafür sei ihm höflich gedankt. Das Eröffnungsspiel ging somit relativ zügig über die Bühne – es waren 90 Minuten, wie immer, es kam mir jedoch nicht so lang vor. Ein Ex-Gladbacher erzielte das goldene Tor und auch wenn Vaclav Sverkos nicht als einer der allergrößten Borussen in die Annalen eingegangen ist, hat es mich für ihn gefreut.
Portugal gegen die Türkei habe ich mir gespart (es war wahrscheinlich die Angst, Jakob könne wieder mitkommen und seine Lokalrunden im selben Tempo beibehalten, die mich vom zweiten und wohl besseren Spiel fernhielt). Und so kam es, dass mich eine SMS mit dem Zwischenstand des familieninternen Tippspiels und der kurzen Info „Portugal schon stark“ grob über das Verpasste aufklärte. (Übrigens führe ich die heimische Tipp-Tabelle nach vier Turnierspielen gemeinsam mit meinem Bruder an, nur so nebenbei.)
Doch ganz ehrlich - Eröffungsspiel, Portugal, Österreich, alles hin oder her: Die EM hat gestern um 20:45 Uhr erst so richtig begonnen - und wie. Mario Gomez hätte nach drei Minuten bereits Philipp Lahms Paradebeispiel für ein wichtiges „frühes Tor“ aus dem Jahr 2006 toppen müssen. Warum er es nicht getan hat, wird er selbst nicht so genau wissen. Der Kicker bescheinigt Miroslav Klose einen ungenauen Pass. Aber der hätte noch eine ganze Portion schlechter querlegen können, Gomez muss den immer noch machen.
Zum Glück hielten sich danach die Parallelen zum Polen-Spiel vor zwei Jahren in Grenzen. Den Chancentod starb in der Folge nur noch Mario Gomez, wobei er sich immerhin mit dem öffnenden Pass auf Klose vor dem 1:0 rühmen darf. Zudem fehlten Neuville und Odonkor, die Polen wurden nicht durch einen Platzverweis dezimiert und mein Bauchgefühl war von Beginn an besserer Natur als über 91 Minuten am 14.6.2006.
Es ist nun müßig darüber zu spekulieren, ob wir schlichtweg eine bessere deutsche Mannschaft als damals gesehen haben. Fest steht, dass die Polen ziemlich enttäuschten. Während unserem Durchhänger vor und nach der Pause hatte ich das Gefühl, dass es nicht sie waren, die übermäßig zulegten, sondern wir selbst nicht mehr das Niveau der ersten und letzten dreißig Minuten halten konnten. Unterm Strich hört es sich beruhigender an, über eine klar definierbare Schwächephase mit offensichtlichem Anfang und Ende sprechen zu können, als über die gesamte Spielzeit immer wieder eklatante Aussetzer resümieren zu müssen.
Das gestrige Spiel hat Mut gemacht und spätestens jetzt darf man Jogi Löw glauben, dass der einst gebeutelte Kader mit seinen Wehwehchen und Formproblemen die angekündigte Punktlandung hinbekommen hat. Nachdem sich in den Tagen nach den Spielen gegen Weißrussland und Serbien viel Pessimismus breit gemacht hatte, war ich doch überrascht heute Morgen von Autokorsos (oder heißt es –korsi?) im kleinen Anrath zu hören. Normalerweise sind die frühestens ab dem Viertelfinale eine angemessene Feiervariante. Wobei diejenigen, die sich an der kleinen Umfrage hier beteiligt haben, fast unisono für einen Sieg gegen Polen stimmten, nur einer fürchtete ein Debakel.
Das ZDF hat heute Mittag schon das Gütesiegel „Galavorstellung“ ausgepackt. So weit sollten man noch nicht gehen, denn mit zwei weiteren dieser Auftritte werden wir zwar souverän das Viertelfinale erreichen. In der K-o.-Runde müssen Schwächephasen wie gestern aber der Vorrunden-Vergangenheit angehören. Was Polen noch ungenutzt lassen, werden Portugiesen dankend annehmen.
Wobei man insgesamt (Stand: Montag, Ende des Frankreich-Spiels) selbstbewusst behaupten kann, dass sich unsere Angst vor den vermeintlich größten Konkurrenten ruhig in Grenzen halten kann – einerseits, weil bisher außer den Portugiesen nur wir selbst überzeugten, andererseits weil wir ordentlich vorgelegt haben. Es würde ja auch keinen Sinn machen, die beste Leistung eines Turniers im Auftaktspiel auszupacken. Jogis Jungs haben sich relativ geschlossenen präsentiert, der eine vielleicht einen Tick besser als der andere, aber letztendlich ist kaum einer besonders aus der Reihe gefallen. Ein Auftakt nach Maß eben.
Die Kopfnoten:
Lehmann: Am Anfang zwei schweißtreibende Aussetzer, danach Ruhe ausstrahlend. Wenn geprüft, dann stets auf dem Posten, zudem selten ernsthaft geprüft. Er wird sich von Minute zu Minute steigern. Am Ende stand die Null, für ihn gibt’s eine 3.
Jansen: Agil in der Offensive, anders als befürchtet gut im Zusammenspiel mit Podolski, machte mächtig Dampf. Hinten zu oft überlaufen, manchmal nicht resolut genug, insgesamt zu viele Flanken von links. Hat jedoch bewiesen, dass er in die Startelf gehört. Positives und Negatives pendeln sich letztendlich auf einer 3 ein.
Mertesacker: Überragende Zweikampf- und Passwerte, auch der Gesamteindruck bärenstark, ist der unumstrittene Boss in der Defensive. Wenn die Null steht, ist das immer ein Indiz für eine gute Leistung, die Abstimmungsschwierigkeiten mit Lehmann zu Beginn seien verziehen. Einziger Kritikpunkt: Schwach im Spiel nach vorne bzw. kaum stattgefunden. Dennoch starke Leistung - 2,5.
Metzelder: Besser als gegen Serbien, viel besser als gegen Weißrussland. Jedoch nicht wie bei der WM vom Niveau her gleichauf mit Mertesacker, eher dessen Nebenan. Aber keine schweren Fehler, die im Gedächtnis geblieben sind. Wie das andere Sorgenkind Lehmann sind Steigerungen absolut zu erwarten, versuchte es von Zeit zu Zeit mit Vorstößen in die polnische Hälfte, die jedoch allesamt verpufften. Insgesamt zufrieden stellend, 3.
Lahm: Typisches Lahm-Spiel – fehlerlos, über seine rechte Seite hinten ging gar nichts, harmonierte sehr gut mit Fritz. Müsste selbst ab und zu den Weg zur Grundlinie suchen und sich etwas mehr in den Vordergrund spielen. Ansonsten sehr, sehr zuverlässig – Philipp Lahm eben. Wegen stärkerer Defensivleistung als Jansen eine gute 2,5.
Frings: Nicht hinter Ballack, sondern auf einer Linie mit dem „Capitano“. Das galt auch für seine Leistung, sogar besser als der Kollege. Absolute Führungskraft, kurbelte das Spiel gut an, spielte öffnende Pässe. Könnte sich vielleicht noch etwas öfter konkret ins Spiel nach vorne einschalten. Wie gewohnt sehr wenige Fehler, ist die Stütze, die er sein soll – 2.
Ballack: In der Rolle direkt neben Frings nicht ganz so präsent im Angriff. Hatte nur eine gute Chance, die Boruc gut vereitelte. Passte in der 4. Minute klasse auf Klose, überhaupt eher als Vorbereiter glänzend, weniger als Vollstrecker. Um einiges schwächer als im Serbien-Spiel, dennoch ordentlich, unterm Strich mit Steigerungspotential – 3.
Fritz: „Nicht wirklich überzeugend als Schneider-Ersatz“ – das galt gestern nicht mehr. Rannte sich die Seele aus dem Leib, interpretierte die Rolle zwar anders und ließ Lahm auch mal den Vortritt. In dieser Art und Weise ein Gewinn mit seinen Vorstößen zur Grundlinie und seinen Defensivqualitäten. Muss sich wegen der Auswechslung nicht grämen – 2,5.
Podolski: Glücksgriff von Löw, gehört einfach in die Startelf. Kam mit dem Laufpensum im Mittelfeld zudem gut zurecht. Besonders beim 2:0 der Podolski, den man kennt und liebt. Sehr kraftvoll, mit hervorragender Technik. Bekam viel auf die Socken, steckte aber nie auf. Bei seinen Treffern, die noch folgen darf er dann auch ausgelassen jubeln – 1,5.
Gomez: Wie schon gegen Serbien ungewohnt nachlässig vor dem Tor, hätte zwei Treffer erzielen können, einen machen müssen. Da Podolski sein Zuhause wohl auf links gefunden hat und Kuranyi meilenweit von ihm entfernt ist, weiterhin eindeutig gesetzt. Muss Chancen wie z.B. in der 4. Minute demnächst nutzen. Steigerungsfähige 3,5.
Klose: Zu uneigennützig beim Querpass auf Gomez in der 4. Minute. Legte zwei Tore auf, Qualitäten, die nicht jeder Topstürmer besitzt. Insgesamt mit wenigen eigenen Gelegenheit, jedoch unermüdlicher Arbeiter, spielte gut Pressing – zur Belohnung eine 2.
Schweinsteiger (ab 55.): Hat gezeigt, dass man auf ihn zählen kann. Fritz arbeitet vor, Schweinsteiger haut danach gut eine halbe Stunde rein – das könnte eine interessante Variante in den nächsten Spielen werden. Setzte vor dem 2:0 super nach, maßgeblich an Podolskis zweitem Tor beteiligt. Ohne Umstellungsprobleme auf der rechten Seite, wird schwer bis Donnerstag an Fritz vorbeizukommen, momentan wahrscheinlich 12. Mann – als Note eine 3.
Hitzlsperger (ab 75.): Kam erst eine Viertelstunde vor dem Ende, half hinten dicht zu machen und zeigte, dass sich sogar sein Schuss mit dem schwächeren Rechten sehen lassen kann. Schwer zu bewerten, fiel weder äußerst positiv noch negativ auf.
Kuranyi (ab 90.+1): Ein Ballkontakt – belassen wird es dabei.
Aufstellung:
Lehmann – Jansen, Mertesacker, Metzelder, Lahm – Frings, Ballack, Podolski, Fritz (55. Schweinsteiger) – Klose (90.+1 Kuranyi), Gomez (75. Hitzlsperger)
Tore:
1:0 Podolski (20.), 2:0 Podolski (72.)
Gelbe Karten: Schweinsteiger – Lewandowski, Smolarek
Montag, 9. Juni 2008
EM-Tagebuch (10) -
Maßloser Beginn, Auftakt nach Maß
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