Freitag, 4. Juli 2008

EM-Tagebuch (45) -
Schlussstrich

Das Finale von Wien liegt eine gefühlte Ewigkeit zurück. Bundesligaspielpläne werden bereits sorgfältig gewetzt, um auch bloß keinen Samstagnachmittag leichtfertig zu verplanen. Der Fußball-Alltag nimmt also seinen gewohnten Lauf. Was auch sonst? Deshalb ist es an der Zeit, in Sachen EM 2008 endgültig einen Schlussstrich zu ziehen.

Obwohl ihr Glanz und ihr Stellenwert verhältnismäßig schwinden, haben Olympische Spiele auf jeden Fall eine gute Sache an sich: Am Ende der Veranstaltung zieht der IOC-Präsident in seiner Abschlussrede in der Regel ein Fazit, dass einerseits die Qualität der aktuellen Ausgabe bestimmt und als Gradmesser für folgende Spiele dient.

Als reiner Kontinentalwettbewerb mit ganzen 368 aktiven Sportlern rangiert die Fußball-EM mittlerweile in den oberen Gefilden der Liste der wichtigsten Sportveranstaltungen. Doch ein offizielles Resümee fehlt einer Europameisterschaft und dieser Tage wünscht man sich, die Frage, ob die Ausgabe von 2008 wirklich die „beste aller Zeiten“ gewesen ist, könne endlich eine finale Antwort erhalten. Ganz so einfach ist das nicht, denn was macht ein Turnier zum besten seiner Art? Das spielerische Niveau, bahnbrechende Innovationen, einzelne herausragende Momente, eine perfekte Organisation?

Rein fußballerisch gesehen hatte die EM in Österreich und der Schweiz sicherlich einiges zu bieten. Spiele wie das der Russen gegen Holland oder Spaniens Demontage der „Sbornaja“ in der Vorrunde ließen jeden Beobachter mit der Zunge schnalzen. Doch was ist beispielsweise mit den Grottenkicks in der K.o.-Runde, Kroatien-Türkei oder Italien-Spanien, lassen sich die grottenschlechten Auftritte der Griechen, Franzosen und Rumänen einfach so unter den Teppich kehren? Unterm Strich hatte die EURO 2008 nämlich nicht mehr Schmankerl am Start als ihre Vorgänger. Viele Partien ragten heraus – in beide Richtungen, nach oben und unten.

An der Organisation der beiden Gastgeber gibt es derweil wenig auszusetzen. Weitgehend tadellos richteten Österreich und die Schweiz als zweites Länderduo in der Geschichte das Kräftemessen der europäischen Fußballmächte aus. Allein die Stadien ließen zu wünschen übrig, was ihre Größe angeht. 30000 Plätze sind nun einmal nicht annähernd genug, wenn geschätzte 200000 Fans aus einem Land nicht „nein“ zu einer Karte sagen würden. Immerhin gibt sich die UEFA in dieser Hinsicht lernfähig. Ach ja, eines noch: Vielleicht sollte man die Regelung einführen, dass nur noch Länder eine EM ausrichten dürfen, die sich in fast 50 Jahren schon einmal auf ehrliche Art und Weise für ein Turnier qualifiziert haben. Macht irgendwie Sinn, wir sind ja nicht beim Tennis und werfen mit Wildcards um uns.

Die großen, Aufmerksamkeit erregenden Zwischenfälle neben dem Platz blieben Gott sei Dank aus. Hier und da ein paar Unverbesserliche, aber im Prinzip verlief das Turnier auf den Fanfesten friedlich. Die berüchtigte „Volksfeststimmung“ musste immer wieder für eine atmosphärische Wasserstandsmeldung herhalten. Womit wir beim ersten wahren Problem angelangt wären, das nur bedingt organisatorischer oder fußballerischer Natur ist, sondern vielmehr bereits gesellschaftwissenschaftliche Züge annimmt: Die Übernahme des (deutschen) Fußballs durch die Spaß- und Partygesellschaft. Erschreckende Bilder lieferte der Empfang der deutschen Mannschaft am Brandenburger Tor vergangenen Montag. Früher haben wir uns vor schweren Ausschreitungen, rechtsradikalen Aufmärschen und Wasserwerfereinsätzen gefürchtet. Heute sind es Zahnspangenträger, Kreischungeheuer und Anhänger der Fraktion „Verloren – scheißegal, Hauptsache Party“, die uns – also mich zumindest – zunehmend in Angst und Schrecken versetzen.

Vorbei die Zeiten, als Fußballer noch „Katsche“, „Loddar“ , „Icke“ oder allemal – das war spitznamentechnisch schon ein großer Ausreißer – „Tante Käthe“ hießen. Poldi, Schweini, Micha und Miro lauten die bedeutendsten Namen der Gegenwart. Damit könnte man noch leben, wenn sie nicht zu allem Übel vorzugweise in ohrenbetäubender Kreischlautstärke zum Besten gegeben würden. Das hier ist weder eine Geschlechts- noch eine Altersfrage. Niemand wird gezwungen, den Kicker zu abonnieren. Dauerkarten und Auswärtsreisen gehören nicht zum Pflichtprogramm, genauso wenig wie der Name des WM-Torschützenkönigs von 1958 oder die Zuschauerzahl beim UEFA-Cup-Endspiel 2004.

Ich verlange ja gar nicht viel, zeige mich noch toleranter als eigentlich angebracht. Ich will doch nur, dass endlich ein Ball, 22 Spieler (nicht deren Freundinnen) und zwei Aluminiumgehäuse wieder in den Mittelpunkt rücken. Ich könnte das Gekreische vielleicht sogar noch in Maßen tolerieren, wenn es beim popeligen Länderspiel gegen Belgien immer noch jemanden gäbe, der dieses freundschaftliche Aufeinandertreffen um die Goldene Ananas und ein bisschen Prestige mit derselben Inbrunst wahrnehmen würde wie eine Public Viewing-Veranstaltung im städtischen Jugendheim oder auf dem Marktplatz in Idar-Oberstein. Doch wie es so ist, genießen amerikanische Vorabendserien auf dem Niveau eines österreichischen Erstligaspiels dann in der Zeit nach einem großen Turnier wieder voll und ganz die Zahnspangen tragende Aufmerksamkeit. So ohne Leinwand und 40 000 Mitgucker müsste man sich dann ja tatsächlich für das Spiel interessieren. Und Eintrittskarten kosten auch noch Geld. Public Viewing war dagegen immer umsonst. Blöd aber auch.

Dieser Trend scheint Michael Ballack, in diesem Falle stellvertretend für seine Nationalspielerkollegen, genauso auf den Geist zu gehen. Dabei geht es nicht direkt um Rumgekreische oder liebkosende Spitznamen, sondern um eine Parallelentwicklung in der Nationalmannschaft. Wir haben live gar nichts davon mitbekommen, aber der Kapitän Ballack und Manager Bierhoff müssen sich am Rande der spanischen Siegesfeier auf dem Rasen im Ernst-Happel-Stadion mächtig in die Haare geraten sein. Ballack habe die Nase voll von Event-Fußball, Verwöhnungsphilosophie und werbetechnischer Bevormundung, heißt es. Wenn dem denn tatsächlich so ist, gebe ich ihm vollends Recht. Hierin sehe ich nämlich so etwas wie den Quell unserer derzeitigen Probleme – unsere Nationalspieler sind verwöhnt, bekommen – wie es so schön heißt – den Arsch nachgetragen und vergessen darüber, worum es eigentlich geht.

Nicht nur Michael Ballack scheint das bemerkt zu haben. Auch Torsten Frings verzog auf der „Siegesfeier“, alias „Leichenschau“, am Brandenburger Tor das Gesicht, als müsse er sich nach einem überraschenden Abstieg aus der Bundesliga den wütenden Fans stellen. Der Auftritt der Nationalmannschaft vom Montag war mit Sicherheit einer der peinlichsten Momente der jüngeren DFB-Geschichte – auch wenn es nicht gerade viele einsehen wollen. Rudi Völlers Wutausbruch auf Island war wenigstens noch amüsant, die EM 2000 allein fußballerisch eine Farce. Doch die Catwalk-Veranstaltung in Berlin war schlimmer, ein Mekka des Fremdschämens: Ein singender Oliver Pocher, der die These widerlegt, dass man etwas auf dem Kasten haben muss, um es zu etwas zu bringen; kreischende Teenies, die nicht kapieren, dass man den Nachnamen des Spielers ruft, wenn ein Stadionsprecher seinen Vornamen vorgibt; das Plakat „Ihr seit die Besten!“; Nationalspieler, die sich deutlich anmerken lassen, dass ihnen die ganze Prozedur mächtig auf den Senkel geht.

Wie heißt es immer so schön: Der letzte Eindruck bleibt haften. Zuletzt haben eine Endspielpleite und eine grauenvolle Danksagungsaktion am Brandenburger Tor nachhaltig Eindruck hinterlassen. Allein deswegen schon kann die Ausgabe anno 2008 eigentlich nicht die „beste aller Zeiten“ gewesen sein. Da sind ein deutsches Vorrundenaus und Griechenland als Europameister ja besser zu ertragen. Womit die Frage vom Anfang zumindest eine halbwegs akzeptable Antwort erhalten hätte.

Dass diese EM dennoch Spaß gemacht und ein paar schöne Momente bereitet hat, ist dennoch nicht zu leugnen. Wir sind ins Finale gekommen, dürfen uns zweitbeste Mannschaft vom Mutterkontinent des Fußballs nennen. Dieses Wissen allein kann helfen und über die Momente dieser EM hinwegtrösten, die wir lieber jetzt als gleich vergessen möchten. Bald ist ja auch wieder Bundesliga: Da hat das Gekreische Gott sei Dank vorerst ein Ende. Und Oliver Pocher lässt sich zum Glück nur in Hannover blicken. Es geht doch.

1 Kommentar:

  1. Häte ich Zeit gehabt, etwas zu diesem fiesen Event-Volk zu schreibe, es wären diese Worte gewesen. Danke Jannik, du sprichst mir aus der Seele.

    Ballack ist mir durch seinen kleinen Ausraster sympathischer geworden, als durch sämtliche Fußballspiele von ihm zuvor. Da habe ich wenigsten die Gewissheit bekommen, dass es noch einen selbstständig denkenden Fußballer gibt.

    Dieser mittlerweile herrschende Zwang, dass die Spieler nach jedem noch so schlecht herausgespielten Sieg - geschweige denn einer Niederlage - die Humba machen müssen, ist pervers und sonst nix.

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