Er ließ die Playstation noch abholen. Dann war das Kapitel Nationalmannschaft für Kevin Kuranyi beendet. „Endlich“, sagen die einen. „Gott sei Dank“, meinen die anderen. Über Kämpfe mit der Objektivität, Fehden mit der Motorik und langes Ü.
Einsicht, Selbstmitleid, Größenwahnsinn oder doch nur ein Missverständnis? Berücksichtigt man den Zeitpunkt, zu dem Kevin Kuranyi sein Nationalspielerdasein de facto beendete, erscheint Erklärung Nummer eins am plausibelsten - eigentlich. Wer noch einmal den Namen des Protagonisten überfliegt, dem wird Nummer zwei und drei viel mehr zusagen.
Es war Halbzeit. Die Elf auf dem Platz hatte eine richtig gute, eine erfrischende, wenn auch nicht perfekte erste Hälfte hingelegt und führte mit 2:0. Kuranyi dürfte spätestens jetzt gemerkt haben, dass diese Sportart nicht seine ist.
Lukas Podolski brachte Deutschland nach einer schnellen und sehenswerten Kombination in Front, die schwer an das gepflegte Direktspiel der Klinsmann-Ära erinnerte. Schweinsteigers Weiterleitung mit der Sohle, Kloses hochklassiges Abschirmen im Stile eines Centers beim Basketball, der tödliche Pass auf Podolski, dessen rasante Drehung, der geschmeidige Wackler mit der Hüfte, der ansatzlose und präzise Schuss in die kurze Ecke – allesamt Szenen, die Kevin Kuranyi bereits anatomisch mit schier unlösbaren Herausforderungen konfrontiert hätten.
Soviel Einsicht und Realitätssinn sind der Nummer 19 (!) der ewigen DFB-Torschützenliste leider kaum zuzutrauen, weshalb bezeichnenderweise weder eine Erklärung noch ein Lebenszeichen des gebürtigen Brasilianers vorliegt - aufgewachsen in Panama, mit deutscher Mutter, deutschem Pass, einem Großvater aus Ungarn und einem Sprachfehler, den man niemandem wünscht.
Der Mensch ist geneigt, bei besonders krassen Fällen kaum noch objektiv urteilen zu können. Wiederum zeigt er auch die Tendenz, ein allzu einseitiges – aber dennoch objektives – Urteil nicht als solches anzuerkennen. Außer ein paar in seinem Fall unbrauchbaren Torstatistiken findet sich aber schlichtweg kein gutes Haar, das man an Kevin Kuranyi lassen könnte. Selbst der gütigste, sozialste und barmherzigste Mensch, so jemand wie Mutter Teresa, müsste bei dieser Suche mit erhobenen Händen kapitulieren und den Glauben an das Gute im Leben verlieren. Selbst „Auf Schalke“ ist man nicht so verblendet.
Und wo wir schon bei menschlichen Neigungen und Tendenzen sind – eine variable Berichterstattung, die mehr als einen Brennpunkt im Zentrum abdeckt, erscheint fernab der Möglichkeiten. Kuranyis Abgang stellt 90 Minuten Fußball und einen unterm Strich glücklichen, aber verdienten Sieg gegen Russland vollkommen in den Schatten. Da wird das nötigste einfach abgehakt – weil es nun einmal immer so gemacht wird. Adlers starkes Debüt, Westermanns Kampf mit Navigation und Motorik, Trochowskis allmähliche und überraschende Manifestierung in der Startelf – reine Randnotizen in einem Spiel, dass diese Unterordnung nicht verdient hat.
Deutschland spielte gut, weckte gerade in Hälfte eins zeitweise Erinnerungen an Tage offensiven Hurra-Fußballs, die eben mehr als nur gut waren. „Gut“ war die EM. „Sehr gut“ muss es sein, um mehr zu werden als nur Zweiter. Doch schon damals hatte das „Hurra“ mit dem „Oh Gott“ einen treuen und unliebsamen Begleiter gefunden. Das Hauptsache-den-Vorsprung-über-die-Zeit-retten-Prinzip hat gestern in Dortmund wieder Einzug gehalten. Zum Glück treffen sich „sehr gut“ und „noch ausreichend“ irgendwo im Zweierbereich. Zum Glück war Russland lange Zeit nicht das Russland der EM. Zum Glück haben wir einen Keeper, der die Glanzparaden noch auspackt, wenn die Fahne des Linienrichters bereits seit einer Minute im Wind weht.
Und zum Glück ist gestern Abend ein großer Block von schwarzen Eisberg des Rumpelfußballs abgebrochen und am Abgrund bzw. im Westfalenstadion verschwunden. Jetzt noch einen Innenverteidiger basteln, Per Mertesacker eindringlich erklären, wie das mit dem Stellungsspiel und der Spieleröffnung nochmal funktioniert und ihn gemeinsam mit Mario Gomez zur Krankengymnastik schicken, dann sieht es ziemlich gut aus. Mit Südafrika 2010.
Spätestens Ballacks Finger vor den Lippen nach seinem 39. Länderspieltreffer wird auch die letzten Zweifler überzeugt haben, dass eine Nationalmannschaft ohne den 32-jährigen nicht sein muss und einfach nicht geht. Dazu ein erfreulich geradliniger, aber weiterhin unbeschwerter Bastian Schweinsteiger. Ein Lukas Podolski, der keinen Gala-Tag braucht, um sich Gerd Müller einen weiteren Schritt zu nähern. Und ein Miro Klose, der zeigt, dass höchstens italienische Stürmer hüftsteif sind. Unterm Strich war es eben genug, um das teilweise fatale Bild zu übertünchen, das die deutsche Defensive besonders in Hälfte zwei abgegeben hat – wobei das Wort „Defensive“ den Torwart bekanntlich ausschließt, wenn von Deutschland die Rede ist. René Adler hat ein weiteres Mal bewiesen, dass ein Kahnbeinbruch keineswegs zum Genickschaden werden muss.
Das Arbeitsprotokoll – ohne Noten, mit Kevin:
René Adler: Mit einer Premiere nach Maß. Ihm war die Vorfreude schon bei der Hymne anzumerken, als er andächtig die Augen schloss und das „üüüüüü“ von „Blüh‘ im Glanze“ aufsaugte wie ein AEG-Hochleistungsgerät. Im Spiel dann nach außen nicht nervös, sondern souverän und ruhig. Dass er die Spiele liebt, „wenn am Ende noch einmal alles auf dein Tor zuläuft“, war ihm förmlich anzusehen. In der wackligen Schlussphase war er der Fels in der Brandung.
Philipp Lahm: Setzte zweimal zur Kopie des Costa Rica-Treffers an. Hatte anscheinend im Bus die Kevin-Kuranyi-Gedächtnis-DVD eingelegt und sein Schuss erreichte mit Ach und Krach das Toraus. Hinten mehrmals mit diesem unsäglichen Spreizschritt, der mehr an Disco Fox als an gelungene Abwehrarbeit erinnert. Dadurch einer der Protagonisten in der Fehlerkette vor dem Anschlusstreffer der Russen.
Per Mertesacker: Per, wo drückt der Schuh? Bei jedem Ballkontakt sprangen einmal mehr alle Orthopäden vor dem Fernseher auf – in der Angst, gleich einen offenen Knöchelbruch mit ansehen zu müssen. Putzte zwar so einiges weg, dennoch nicht der Mertesacker, der er schon einmal war. Mitunter eher ein echter Westermann.
Heiko Westermann: Der etatmäßige Innenverteidiger, der angeblich viel zu oft auf Außen aushelfen musste und aktuell ein Mittelfeldspieler ist, der Kevin Kuranyi „auf Schalke“ in den Schatten stellt, ist gefährlich wie eine Flasche Salzsäure im Milchregal. Wenn es ihm gelingt, den Ball zu klären, dann sind neben dem Ball meist seine Nebenleute arm dran, während sich der Gegner herzhaft freut. Ob nun die Felix-Magath-Frisur Schuld ist oder hier ein echter Talentmangel vorliegt, ist noch nicht endgültig geklärt. Eins ist jedoch klar: Geheimratsecken verursachen keine Gegentore.
Arne Friedrich: Im Vergleich zur Abteilung des Inneren ein echter Ruhepol. Die Chancen der Russen in Hälfte eins wurden zwar über seine Seite eingeleitet. Das Gegentor fiel am Ende jedoch über links. Eigentlich bezeichnend für Arne Friedrich, bei dem kalkuliertes Risiko irgendwie dazugehört – nicht, weil er ein Draufgänger ist, sondern weil er weiß, dass seine limitierten Fähigkeiten von Zeit zu Zeit nicht mehr zulassen. Dennoch ein akzeptables Länderspiel des Herthaners. Vorne sogar mit einer guten Flanke und drei tauglichen Ballannahmen. Allein die Tatsache, dass seine Anwesenheit uns Clemens Fritz ersparte, bringt ihm 500 Payback-Punkte ein.
Thomas Hitzlsperger: Ballacks Nebenmann, dabei hätte dem Capitano ein Schattenmann wie Simon Rolfes wohl noch besser getan. Ohne Schuss aus dem Stand und übers Tor ging es auch diesmal nicht. Beim 1:0 mit öffnendem Pass auf Schweinsteiger. Ansonsten solide, mehr nicht. Autodidakten wie Hitzlsperger gibt es immer wieder. Dennoch sind sie irgendwie immer einen halben Schritt hinterher.
Michael Ballack: Mit Länderspieltor Nummer 39 und einem sehenswerten Comeback. Wurde als Führungskraft gefordert und den Anforderungen besonders in Hälfte eins gerecht. Wenn er auf die Socken bekam, ließ Schiri Fröjdfeldt laufen. Verfehlte ein Gegenspieler seine Wade einmal, ging Ballack auf Tauchgang. Der Mann hat eine Aura, die sich ein Hitzlsperger weder auf der Psychologencouch noch im Kraftraum aneignen kann. Deswegen ist Ballack auch Ballack – nicht Bierhoff.
Bastian Schweinsteiger: Wie schon erwähnt, behielt er seine erfrischende Spielweise bei, spielte jedoch erfreulich geradlinig. Wenn mit Hacke, Spitze, 1-2-3, dann war’s auch angebracht und erfolgreich. Und das, obwohl auf seinen Schuhen neuerdings „Sarah“ steht – aber Schweinsteiger kann’s eben auch mit High-Heels.
Piotr Trochowski: Auf dem besten Weg zur Institution in der Startelf. Beteiligt am 2:0, traf nach der Pause mit einem Philipp-Lahm-Schuss die Latte (mit dem echten Philipp-Lahm-Schuss, wohlgemerkt). Im Rausch gewann er sogar ein Kopfballduell. Was für eine Leistung. Als wenn der Ball innerhalb der EU-Grenzen bliebe, wenn Kevin Kuranyi ihn annimmt.
Lukas Podolski: Noch 37 – dann hat er gleichgezogen. Mit Gerd Müller. Mathematisch gesehen, erzielt Podolski Ende 2013 sein 68. Länderspieltor. Mit 28. Warum ich nur über Zahlen und nicht über seine Leistung schreibe? Weil außer einem Tor und zwei gewohnt wuchtigen Schüssen wenig zu sehen war. Einer wie Podolski braucht nicht wirklich eine Chance für ein Tor. Dabei ist er jedoch anders als ein van Nistelrooy, der aus dem Nichts trifft. Podolski benötigt den Ball allein auf dem linken Fuß, auf einer Fläche, die circa 100 m² groß ist – dann ist der Ball mit außergewöhnlich hoher Wahrscheinlichkeit im Tor. Ende der Ansage.
Miroslav Klose: Fußball spielen kann der Mann. Genau deshalb braucht er keine eigenen Tore, um auf sich aufmerksam zu machen. Da reicht schon ein gut abgeschirmter Ball, ein kluger Pass in die Gasse und eine daraus resultierende Torvorlage. Viel mehr war auch von Klose nicht zu sehen. Es reichte. Drei Tore sind eben nicht immer drin.
Mario Gomez: Setzte gut einen Fuß vor den anderen, hielt sich geschickt aus dem Geschehen raus und gab den Ball möglichst schnell wieder ab. Ob Mitspieler, Gegner, Seitenaus – einen Abnehmer fand er immer. Obwohl er es war, der eingewechselt wurde, und nicht der jüngst hoch gehandelte Patrick Helmes, ist er mit Kuranyis Abgang vorerst am Ende der Stürmerhierarchie angelangt. Der spielte 2004 übrigens sein erstes Turnier – ohne Erfolg. Zwei Jahre später war er dann schon nicht mehr dabei. Gomez war dieses Jahr zum ersten Mal mit von der Partie. Zwei Jahre später wird er…
Torsten Frings: Eieiei – in der 83. erst eingewechselt. Frings ist eben kein Ballack. Von wegen Aura und so…
Simon Rolfes: Solider Auftritt über 60 Sekunden.
Kevin Kuranyi: Der Kurs der EA Sports-Aktien sackte mächtig ab, obwohl die Börsen gar nicht offen waren. Grund: Kuranyis Konterfei ziert den Titel des neusten Computerspiels FIFA 09. Günter Netzer erklärte sich spontan bereit, für ein neues Cover herzuhalten. Die Mundwinkel von Ronaldinho, mit dem Kuranyi sich bislang den Platz teilte, sanken daraufhin unter NN. Das Frisuren-Duell mit Kuranyi hatte er noch hauchdünn gewonnen. Jetzt bekommt er kalte Füße.
Sonntag, 12. Oktober 2008
Auf der Flucht
Eingestellt von Jannik um 20:30
Labels: Einwurf, Nationalmannschaft
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