Dienstag, 15. April 2008

Fohlengeflüster (23): Einfach göttlich

‚Und er sprach: Es werde Aufstieg. Und es wurde Aufstieg.’ Im Fußball ist Göttlichkeit paradoxerweise stets allgegenwärtig, obwohl seine Anhänger den Fußballgott oft genug verteufeln. Doch manchmal bietet Religiosität die einzig plausible Erklärung für schier unerklärliche Phänomene, die Naturgesetze außer Kraft setzen und uns in Stimmungen versetzen, die man so nur im Stadion durchlebt. Und sei es nur ein Tor von Oliver Neuville, das sich das Prädikat „göttlich“ verdient.

Fußball und Naturgesetze, Fußball und Mathematik – das verträgt sich nicht. Man mag zwar behaupten, der DFB-Pokal berge seine eigenen Gesetze, aber im Prinzip soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass er in der Realität von der Anarchie der Kleinen beherrscht wird. Jeder kann jeden schlagen. Keiner muss keinen schlagen. Genau das ist schließlich der Grund, warum es uns Woche für Woche in die Stadien oder vor den Fernseher zieht.

Eine Firma kann ihren Jahresumsatz Schritt für Schritt berechnen. Den Verlauf einer Saison kann man nicht annähernd so exakt voraussagen, weshalb die Raute auf meinem Trikot ihren Platz auf dem Herzen hat und der Schriftzug „Kyocera“ meine Brust ziert. Wenn man ein Fußballspiel berechnen könnte wie die Seitenlängen eines Dreiecks, dann könnten Raute und Kyocera ihren Platz auf dem Trikot auch genauso gut tauschen. Doch es geht eben nicht.

Das Spiel gegen Fürth hat einmal mehr bewiesen, wie unberechenbar Fußball sein kann, wie unverhofft man in ein arges Stimmungstief befördert wird, wie unerwartet man sich auf einmal jubelnd in den Armen liegt. Das Schöne ist, dass ich zehn Minuten vor Anpfiff noch keinen blassen Schimmer habe, auf welcher Seite des Flusses ich diesmal zuhause bin. Gewissheit, dass irgendetwas gut oder schlecht ausgehen wird, gibt es nicht. Sondern allein ein inneres Gefühl, das sich manchmal wie ein Instinkt entfaltet. Mit dem lässt sich jedoch selten etwas gewinnen – höchstens ein paar Euro bei Oddset.

Die reine Spielzeit ist wohltuend. Die Halbzeitpause ist schön, wenn die ersten 45 Minuten zur Erheiterung beigetragen haben. Und es gibt nichts Schöneres, als nach neunzig Minuten überschwänglich einen Sieg zu feiern. Aber all das hängt nun einmal naturgemäß von den Ereignissen zwischen An- und Abpfiff ab. Allein die Rituale vor Beginn des Spiels sind im Gegensatz dazu immer gleich und trotzdem einmalig.

Wenn sich das Stadion erhebt, im Rhythmus der Fanfare vor der Mannschaftsaufstellung die Schals in der Luft kreisen lässt oder einfach in die Hände klatscht, dann durchfährt mich stets ein Gefühl, das ich so aus keiner anderen Lebenslage kenne. Gut, ich werfe außerhalb von Stadien auch niemals Klopapierrollen durch die Luft, geschweige denn schreie ich lauthals die Nachnamen von Leuten durch die Gegend, mit denen ich nie in meinem Leben auch nur ein Wort gewechselt habe. Ich würde genauso nie auf die Idee zu kommen – ohne Alkoholeinfluss an Karneval – in der Öffentlichkeit zu singen. Aber damit verhält es sich ohnehin wie mit wilden Beschimpfungen und obszönen Gesten: In der Geborgenheit von 40000 Leuten, die genauso wenig singen können, fällt das Individuum gar nicht erst auf.

Mir fällt spontan nur der Moment ein, in dem die eigene Tochter unter Glockengeläut in die Kirche einmarschiert, der mich mit einer ähnlichen Art von Gänsehaut geradezu einhüllen würde, wie es alle zwei Wochen bei der „Elf vom Niederrhein“ - unserer Nationalhymne - der Fall ist. Meine Tochter hat zwar weder kirchlich geheiratet noch habe ich überhaupt eine Tochter. Aber dennoch ist es bezeichnend, dass ich diesen emotionalen Moment vor einem Fußballspiel mit Religiosität assoziiere. Was womöglich nicht einmal weit hergeholt ist. Denn nicht umsonst führen uns die schier unerklärlichen Eigenheiten des Fußballs meist zu Gott – oder wenigstens zu seinem Ableger, dem Fußballgott. Wenn ein Schuss des Gegners zum dritten Mal hintereinander vom Innenpfosten aus dem Tor springt, wenn ein Schuss auf die unmöglichste Art und Weise abgefälscht wird, dann wird mitunter nicht nur die Arbeit von Nobelpreisträgern wie Bohr oder Einstein außer Kraft gesetzt, sondern gleich göttlicher Einfluss mit ins Spiel gebracht.

Ich muss zugeben, dass die „Elf vom Niederrhein“ ihre ekstatische Wirkung auf mich ausschließlich im Stadion entfaltet – drei Minuten vor Spielbeginn, im Kreise von Tausenden anderen „Gläubigen“ – und nicht zuhause aus irgendwelchen Lautsprecherboxen. Wenn es dann „und schon ertönt der Chor“ heißt und das Klatschen wieder einsetzt, die ganze Kurve singt, dann ist es, als ob ich gleichzeitig von einem Schauer erdrückt und auseinander gerissen würde, der mir nicht eiskalt, sondern lauwarm den Rücken hinunter läuft. Nachvollziehen kann das wahrscheinlich nur jemand, der es genauso oder ähnlich empfindet. Für den Rest der Weltbevölkerung hat jetzt wenigstens jemand versucht, es irgendwie in Worte zu fassen.

Keine drei Minuten sind gespielt, da sendet der Fußballgott ein erstes Zeichen in Richtung Borussia-Park. Steve Gohouri schleicht humpelnd vom Platz. Thomas Kleine kommt für den Ivorer in die noch junge Partie. Gohouri sollte eigentlich den für ein Spiel gesperrten Brouwers in der Innenverteidigung ersetzen. In der Bibel der Fußballgleichnisse wird diese frühe Auswechslung mit Sicherheit nicht unter „gute Omen“ gelistet.

Doch schon in der fünften Minute trotzt Paauwe jeglichen Vorzeichen und schickt Marko Marin mit einem öffnenden Pass auf die Reise in Richtung Tor. Der bisher torlose Youngster läuft von links auf den Kasten zu und überwindet Fürths Keeper Kirschstein mit einem hochwertigen Schlenzer in den Winkel. Vergessen ist die Verletzung von Gohouri, der druckvolle Beginn der SpVgg und Friends erste vergebene Großchance, die Kirschstein noch glänzend vereitelt hatte.

Die frühe Führung kommt natürlich mehr als gelegen. Ohnehin angriffslustige Fürther stehen jetzt noch mehr unter Zugzwang, während der Tabellenführer seine Konterstärke geschickt einsetzen kann. Neuville läuft danach in arger Bedrängnis aufs Tor zu und rettet sich gerade noch zu einem Torschuss, den Kirschstein jedoch erneut abwehrt. Auf der Gegenseite trübt der Ex-Borusse Felgenhauer beinahe die gute Stimmung von 37000 Zuschauern bei teils strahlendem Sonnenschein. Sein toller Freistoß aus 20 Metern klatscht vorbei am chancenlosen Heimeroth an die Latte.

Im Prinzip scheint die SpVgg Greuther Fürth so etwas wie der ideale Gegner für die Borussia zu sein. Selbst die Initiative ergreifend, jedoch defensiv nicht so souverän wie Mainz, Köln oder Hoffenheim, bieten sich zahlreiche Gelegenheiten für Gladbach, sich mit schnellen Passfolgen und öffnenden Zuspielen Räume zu verschaffen. In der eigenen Hälfte lässt das souveräne Duo Daems-Kleine wenig anbrennen. Auf den Außenbahnen bestätigen Levels und Geburtstagskind Voigt den guten Eindruck der letzten Wochen. Allein ein weiteres Tor fehlt, um von einer nahezu perfekten ersten Hälfte sprechen zu können. Der Borussia-Park verabschiedet die Elf von Jos Luhukay mit Beifall in die Kabine, aus der Sharbel Touma nach der Pause nicht mehr zurückkehrt. Der Schwede, überraschend für den eigentlich wieder erstarkten Ndjeng in der Startelf, räumt das Feld, wie schon Steve Gohouri, mit einer Knieverletzung. Coulibaly nimmt seinen Platz im Mittelfeld ein.

Erneut nur fünf Minuten nach Beginn der Halbzeit ist es der Mann aus Mali, der Oliver Neuville das bisher schönste Tor der Gladbacher Zweitligasaison ermöglicht. Mittig vor dem Tor, in zwanzig Meter Entfernung, köpft er den Ball zum 66-maligen Nationalspieler, der sich das Leder in halblinker Position selbst auflegt, um es dann volley im rechten Winkel zu versenken. Das Prädikat „hochwertig“ für Marins Führungstor erscheint geradezu läppisch im Vergleich zu den Lobeshymnen, die Neuville sich mit diesem Hammer verdient. Die Plakette zum „Tor des Monats“ soll zehn Minuten später bereits in Auftrag gegeben worden sein. Das Stadion steht Kopf, und der ein oder andere kehrt unwissend und ungläubig zugleich vom Pausenbier zurück.

Weitere fünf Minuten später herrscht endgültig kollektive Ungläubigkeit und Feiertagsstimmung. Erneut ist es Coulibaly, der auflegt. Diesmal heißt sein Abnehmer Marin. Der dribbelstarke 19-jährige, dem in dieser Saison schon alles bescheinigt worden ist bis auf Torjägerqualitäten, degradiert die Fürther Hintermannschaft zu Bäumen, die ihm wie beim Bolzen im Park zusehen. Mit links platziert er den Ball unhaltbar für Kirschstein im linken Eck. Wenn der Borussia-Park nach dem 2:0 Kopf stand, dann dreht er sich jetzt erneut um 180 Grad und bestaunt den Doppelpack des Supertalents. Die Borussia zaubert die lang ersehnte Galavorstellung auf den Rasen, an der es selbst für die notorischsten Nörglern nichts auszusetzen gibt. Hinten steht mit Klasse und Glück die Null, zum dritten Mal in dieser Saison vor heimischer Kulisse eine Drei. Auch von den Rängen erklingen ab dem 3:0 pausenlos "hochklassige" Gesänge.

Mit drei sowohl spielerisch als auch technisch herausragenden Treffern befördert der Aufsteiger in spe den Gegner an den Rande des Aus-dem-Stadion-geschossen-Werdens. Die Euphorie des Augenblicks lässt jene Gesänge durchs weite Rund hallen, die ich nun schon seit Monaten mit Freude erwartet habe: „Nie mehr Zweite Liga, nie mehr. Nie mehr, nie mehr.“
Es klingt in den Ohren wie Mozart oder Bach, doch auf die könnte die Musikgeschichte in diesem Moment getrost verzichten, wenn ich für den Rest meines Lebens „Nie mehr Zweite Liga“ singen dürfte.

Normalerweise geht so etwas zumindest kurzfristig schief. In der Regel fängt man sich gerade dann ein Gegentor, wenn man kurzerhand dem Glauben verfallen ist, niemand könne einen mehr aufhalten. Doch gerade die Tatsache, dass Fürth in der Folge selbst die klarsten aller klaren Torchancen auslässt und das Aluminium heute scheinbar die Raute im Atomkern sitzen hat, erinnert an ein göttliches Zeichen, das in etwa sagen will: „Jungs, das war’s. Ihr seid so gut wie durch.“

Kotuljac trifft den Pfosten, Achenbach macht mit seinem Lattenschuss das halbe halbe Dutzend an Aluminiumtreffern voll. Kurz vor dem Ende ist es wieder Kotuljac, der mich in der Annahme bestärkt, dass uns heute niemand einen einschenken kann. Frei vor dem Tor kommt er schneller als Heimeroth an den Ball, überlupft den Gladbacher Keeper, der Ball setzt jedoch keinen Zentimeter zu spät auf und kämpft sich mit letzter Kraft – wie ein Hochspringer bei 2,44 m Sprunghöhe – über die Latte. Nicht richtig schlechte Fürther unterliegen am Ende einer Gladbacher Mannschaft mit 0:3, der unterm Strich im Prinzip alles gelungen ist.

Mit dem Herz in der Hand, Gold im Fußgelenk und dem Papst in der Tasche eilt die Borussia den Verfolgern davon und hat den Wiederaufstieg fester im Blick denn je. Als die Nordkurve lautstark nach Jos Luhukay als Vorsänger für die bevorstehende Humba ruft, reißt der sich die Kabel von Premiere, in die sich gerade für ein Interview am Spielfeldrand gezwängt hatte, geradezu vom Leib und kehrt zurück zu den Fans. Diplomatisch wie eh und je verkauft er uns Alex Voigt als den seiner Meinung nach prädestinierten Anpeitscher. Irgendwie sinnbildlich für die Art und Weise, in der Luhukay den fünfmaligen deutschen Meister zurück ans Tor zur Bundesliga befördert hat.

Neun Punkte Vorsprung auf Rang vier, die meisten Siege, die wenigsten Niederlagen (damit logischerweise auch die meisten Punkte), die meisten Tore, die wenigsten Gegentore – eigentlich kann man so nur aufsteigen. Die Geschichten von Pferden vor der Apotheke sind allseits bekannt. Doch all denen, die das schon einmal beobachten durften, müssen diese Bilder ja nicht gleich wieder lebhaft vor Augen gerufen werden. Sprich, der Borussia bleibt gar nichts anderes übrig, als das Werk dieser Saison in den nächsten Wochen in aller Ruhe zu Ende zu bringen. Ob gegen München, in Offenbach oder zuhause gegen Wehen – wann, wo und wie, ist das nicht eigentlich egal? Klar, nachdem man dieses Jahr im Unterhaus so ungewollt aufgezwungen bekam, will man persönlich befragt werden, wie es denn nun zu Ende gehen soll. Das hat aber leider nur die Mannschaft in der Hand. Ein bisschen auch unsere Verfolger. Und natürlich zu guter letzt der Fußballgott.

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