Samstag, 31. Mai 2008

EM-Tagebuch (3) -
Seltener Dank

8,50€ für 95 Minuten EM-Nostalgie. Notizen zum EM-Finale 1996.

Es fällt mir von Natur aus schwer, der Bild-Zeitung für irgendeine ihrer Taten zu danken. Deswegen schicke ich erst einmal Negatives vorneweg, dann fällt es mir nachher leichter: 8,50€ sind zuviel für eine Ausgabe der „Klassikersammlung“, die die BamS nun herausgebracht hat. Zweimal, vielleicht auch dreimal kann man sich das gönnen, aber wer blättert diesen Preis bitte schön jeweils für 40 Ausgaben hin?

Ohnehin interessieren mich so richtig nur das Halbfinale gegen England von vor zwölf Jahren und eben jenes Endspiel gegen Tschechien – weil ich weiß, dass ich es gesehen habe und mich dennoch freilich nicht an jede Einzelheit erinnern kann. Deshalb jetzt ein ehrliches „danke“ für die 90+5-minütige Rückversetzung ins Jahr 1996. Auch wenn es im Vergleich zu den wirklich alten Klassikern, wie dem 3:1-Sieg in Wembley ’72 oder das 4:2 gegen Jugoslawien im Halbfinale vier Jahre später, noch nicht so richtig lange zurückliegt, kommt der „moderne Fußball“, den wir heute mit all seinen Facetten kennen, noch nicht so recht zur Geltung.

Ein paar Beobachtungen:

- Ich denke zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte dürften vor einem großen Finale drei Hymnen gespielt worden sein. Vor der deutschen und tschechischen ertönte zuerst „God save the Queen“. Während die englische Hymne noch feierlich angekündigt wurde, ging es danach schnurstracks mit der deutschen weiter.

- Meinem Bruder musste ich erst einmal erklären, dass die Nummer 18, die uns aufs Feld führte, nicht Tim Borowski, sondern Jürgen Klinsmann ist.

- Die Hymnen wurden von Gesang begleitet. Anna-Maria Kaufmann mag vielleicht eine herausragende Opernsängerin sein. Auf dem Fußballplatz hat sie dennoch nichts zu suchen. Mittlerweile haben es der DFB, die UEFA und die FIFA Gott sei Dank ebenfalls kapiert.

- Miroslav Kadlec präsentierte der Queen seine Mitspieler mit einer seltsamen Handbewegung vor: als wolle er seiner Mutter im Schaufenster eine Jeans zeigen, von der er genau weiß, dass sie den Kauf derselbigen empört ablehnen wird.

- Deutschland spielt in einem 3-5-2 mit Libero, was aus heutiger Sicht fast das Prädikat „antik“ verdient.

- Der tschechische Coach heißt U(h)rin, was mir als Kind bei jeder Verkündung seines Namens einen großen Spaß bereitete.

- Das Tempo ist lange Zeit sehr hoch, bis die deutsche Elf sich wieder aufs Vogts’sche Rumgeschiebe auf der Höhe der Mittellinie besinnt.

- Man hört bei jeder Ballberührung das Klatschen des Balles. Die Astronauten-Bälle von heute sind dagegen weitestgehend stumm.

- Zu den beliebtesten Fanutensilien unter den 15.000 mitgereisten Deutschen gehört ein hässlicher Anglerhut in schwarz-rot-gold. Trikots in der Kurve sind so selten wie englische Siege im Elfmeterschießen (der musste sein, sorry).

- Masseur Katzenmeier ist seitdem nicht wirklich gealtert.

- Als Dieter Eilts sich verletzt, steht René Schneider (!) kurz vor einer Einwechslung. Der Mann ist mit einem Länderspiel (wohlgemerkt vor der EM) Europameister geworden. Zudem hat er die Champions-League mit Dortmund gewonnen, ohne jemals wirklich gespielt zu haben.

- Als dann doch Bode für Eilts ins Spiel kam, waren Bierhoff und Schneider die einzigen beiden verbliebenen Feldspieler auf der Bank.

- Fortuna Düsseldorf (!) ist vor der EM an Pavel Nedved (!) dran gewesen. Nedved trug damals mit 23 Jahren übrigens eine interessante Fönfrisur.

- Nach 56 Minuten, kurz bevor Tschechien durch einen unberechtigten Elfer mit 1:0 in Führung gehen sollte, hatte Deutschland 58% Ballbesitz – weil sich die Abwehr permanent den Ball hin und her schiebt.

- Das Publikum quittierte dies mit einem lauten Pfeifkonzert.

- Die sandige Laufbahn des Wembley-Stadion erinnert an eine Mischung aus Weitsprunggrube, Trabrennbahn und dem Platz bei den Horse Guards.

- Taktische Fouls wurden damals scheinbar noch offensichtlicher vorgenommen als heute. In einer Szene zieht Matthias Sammer Jiri Nemec fast die Hose aus, um ihn zu stoppen.

- „One touch“ hat seine Geburt wohl erst nach ’96 erlebt.

- „4. Tor im 9. Länderspiel – was für eine Bilanz“, schwärmt Bela Réthy nach Bierhoffs Ausgleich (per Kopf, wie auch sonst). Was würde er wohl zu Gomez' Quote von 6 in 9 sagen?

- Heute würde der Reporter nach jedem unglücklichen Zusammenstoß, jedem blöden Ellbogencheck usw. sofort klarstellen: „Wir wollen XY keine Absicht unterstellen“. Damals nahm man den Vorfall einfach zur Kenntnis und weiter ging’s.

- Petr Kouba sah beim Golden Goal verdammt scheiße aus.

- Stefan Kuntz stand im passiven Abseits bei Bierhoffs Schuss.

- Bela Réthy laberte wirres und unnötiges Zeug in den Minuten nach dem Abpfiff bzw. dem Golden Goal.

- Ich muss jetzt aufhören. Gleich geht’s los auf Schalke gegen Serbien.

Freitag, 30. Mai 2008

EM-Tagebuch (2) -
Sieglose Kindheit

Zwölf Jahre liegt der letzte Sieg der Nationalelf bei einer Europameisterschaft zurück. Warum ich eine Mitschuld trage und wir am 8.6. bereits wissen, wie wir den Finaltag verbringen werden.

„Nein, danke, ich hör’ auf. Ich will nicht mehr“. Wäre mir dieser Satz vor zwölf Jahren über die Lippen gegangen, hätte ich mir viel Leid in meiner Karriere als hauptberuflicher Fußballfan ersparen können. 1995 holte Gladbach den DFB-Pokal, ich fuhr mit der Fahne in den Gepäckträger geklemmt durch die Nachbarschaft, klingelte was das Zeug hielt, damit auch jeder von diesem großen Triumph Wind bekam. Es ist bis heute der letzte Glücksmoment dieser Art gewesen, was die Borussia angeht.

Ein Jahr später, kurz nach der Entlassung aus dem Kindergarten begann die EM in England. Deutschland gewann zum Auftakt gegen Tschechien, schlug Russland mit 3:0. Das torlose Remis gegen Italien und Andi Köpkes erste Sternstunde als Elfmeterkiller erlebte ich auf dem Teppich vor dem Fernseher kniend. Es ging so weiter. Vom Viertelfinale gegen die Kroaten habe ich nur noch Klinsmanns Elfer und das 2:1 durch Matthias Sammer in Erinnerung.

Ich denke, es dürfte das Halbfinale gegen England gewesen sein, vor allen Dingen das Elfmeterschießen, das mich erstmals in meinem Leben durch diese Achterbahn der Gefühle jagte, die wir alle kennen, wenn uns ein Spiel – egal ob zuhause oder vor dem Fernseher – so fesselt, dass es besser wäre, wir verließen den Raum. Southgate verschoss, Möller vollendete 20 Jahre deutsche Ungeschlagenheit beim Elfmeterschießen. Zwölf weitere haben sich mittlerweile dazu gesellt, wobei wir seitdem nur noch ein weiteres Mal das Glück derart auf die Probe stellten. Es ging bekanntlich alles seinen gewohnten Weg im Viertelfinale 2006 gegen Argentinien.

Der Grund für unsere weitestgehende Elfer-Abstinenz der letzten zwölf Jahre, liegt vor allem in unserem bitteren Versagen bei den Turnieren 2000 und 2004 verankert. Es klingt fast nach niederländischer Turniertristesse, wenn von zwölf Jahren ohne Sieg bei Europameisterschaften die Rede ist.

Dabei sind es unterm Strich „nur“ sechs Spiele: Ein 1:1 gegen Rumänien (Mehmet Scholl erzielte unseren einzigen Treffer), die 0:1-Pleite gegen England (mit dem illustren Sturmduo Jancker-Rink), das historische 0:3 gegen Portugal (durch drei Tore eines gewissen Sérgio Conceição, der nach einem Abstecher in Saudi-Arabien mittlerweile in Saloniki sein Geld verdient).

Vier Jahre später ging es mit einem 1:1 gehen Holland los (in Porto hätte es gereicht, Frings’ Führungstreffer über die Runden zu bringen, doch Wörns stellte sich gemeinsam mit Fabian Ernst einfach zu dämlich gegen Ruud van Nistelrooy an), das zweite Spiel gegen Lettland endete 0:0, im letzten Gruppenspiel bedeutete das 1:2 gegen Tschechien das Aus (ein Sieg hätte genügt, Rudi Völler nahm daraufhin seinen Hut).

Ohne jetzt Mitleid zu heucheln: Ich bin ein ziemlich gebranntes Kind, was die Europameisterschaft angeht. Deutschland hat seit der Zeit zwischen 1954 und 1972 nie eine längere Durststrecke ohne Titel erlebt, nie lagen mehr als sechs Jahre zwischen zwei Finalteilnahmen. Es ist also an der Zeit.

1996 wurde ich eingeschult, erlebte den Titelgewinn in England also als Kindergartenkind. Jetzt ist meine Schulzeit vorbei. Statistisch gesehen, haben wir immer das Finale erreicht, wenn ich nicht die Schulbank drückte (z.B. während der EM 1992). Seit 1980 wird ein EM-Endrundenturnier mit Gruppenspielen eingeläutet. In dieser Zeit haben wir bei sieben Endrunden fünfmal zum Auftakt remis gespielt, viermal davon 1:1. Nur 1980 und 1996 gab es in der ersten Partie einen Sieg – es folgte erst der zweite, dann der dritte EM-Titel. Theoretisch wissen wir am 8. Juni also schon, ob wir am 29. einen Autokorso veranstalten. Ein Sieg gegen Polen ist alles, was wir brauchen. Wenn es doch nur so einfach wär'.

Trainer Baade hat uns vor ein paar Tagen zwölf Jahre zurückversetzt (wenn auch eher als Mahnmal gedacht). Jetzt auch hier das Video von Bierhoffs Golden Goal gegen Tschechien (das in dieser Art auf keinen Fall seine Wiederholung erleben wird).

Donnerstag, 29. Mai 2008

EM-Tagebuch (1) -
Das richtige Näschen

Die 23 Glücklichen stehen fest. 23 Spieler, die der Reihe Brüssel, Rom, London eine vierte europäische Metropole hinzufügen sollen: Wien. Anpfiff für's EM-Tagebuch.

Ich muss sagen, dass es sich die EM erst seit heute so richtig bequem in meinem Kopf machen kann. Zwischen Abizeitungsstress und Notenverkündung stand hier sechs Tage lang alles still und so manches bei mir zuhause Kopf.

Das Spiel gegen Weißrussland lief irgendwie nebenbei, während ich auf dem Laptop versuchte 208 Seiten Abizeitung ins PDF-Format zu bringen und dabei einem Nervenzusammenbruch nahe war. Scheint auch nicht so schlimm gewesen zu sein, irgendein Spiel über das man in ein paar Jahren nochmal in der Länderspielchronik stolpern wird. Es war nicht gut, aber kein Weltuntergang.

Es sei denn, der dürftige Auftritt in Lautern ist die viertletzte Partie vor der Sommerpause gewesen - sprich, Jogis Jungs verabschieden sich bereits nach der Vorrunde. Die Euro 2008 (selbst in meiner Kindheit hieß das noch nicht so) würde sich dann nahtlos in meine persönliche EM-Historie einfügen, die mit dem Titel begann. Es folgten bekanntlich zwei Turniere ohne jeden Sieg. Morgen mehr dazu.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass jemals solch ein Bohei um eine Kaderzusammenstellung gemacht worden ist wie in diesem Jahr. Die metaphorische Bekanntgabe der vorläufigen 26 Helden (naja, ok, nicht alle verdienen sich diesen Titel, egal was noch kommt) wird sich direkt nach Mariä Verkündigung auf Platz zwei in der "Rangliste der weltbewegendsten Verkündigungen der Geschichte" einreihen. Falls RTL irgendwann die Themen bei "Die 10...blablabla" ausgehen sollten...

Man konnte sich kaum dagegen schützen, mit "exklusiven" Kadernominierungsspielchen bombardiert zu werden. Zufällig bin ich in einem meiner viel zu zahlreichen E-Mail-Postfächer auf die 23 Spieler gestoßen, die ich vor ein paar Wochen auf sport1.de aufgestellt habe. Und jetzt, wo die endgültigen Entscheidungen gefallen und drei der 26 im Recall gescheitert sind, kann ich vermelden, dass 22 meiner 23 damals angeklickten Spieler am Samstag im Team stehen werden. Einen einzigen habe ich verbockt: Ich hätte Robert Enke für Timo Hildebrand zuhause gelassen, wobei mir Löws Wahl letztendlich doch sinnvoller erscheint.

Unerklärlich, wie ich auf David Odonkor kam. Schließlich stand noch nie ein schlechterer Spieler im Aufgebot für ein großes Turnier (lasse mich gerne eines Besseren belehren). Marko Marin bleibt dafür zuhause. Hätte Löw den Jungen gleich außen vor gelassen, könnten wir ganz anders über diese Entscheidung reden. Jetzt kann ich es nicht nachvollziehen. Erst der Hype, dann das erste Länderspiel und am Ende schmeißt er ihn auf einmal raus. Naja, vertrauen wir unserem Bundestrainer einfach mal.

Jedenfalls kann es jetzt los gehen. Wenn es nach mir geht. Samstag schnell das Spiel gegen Serbien mitnehmen, hoffentlich die Wogen etwas glätten und dann frohen Mutes in die Schweiz fahren. Wenn es doch nur so einfach wär'.

Freitag, 23. Mai 2008

Vorzeigetrainervernichtungsanlage

Besser bekannt unter dem Namen Ballspielverein Borussia 09 e.V. Dortmund.

Vorab erst einmal ein Dankeschön an die deutsche Sprache, dass sie vierfach zusammengesetzte Nomen mit 33 Buchstaben ermöglicht. Danach zur Sache:

Jürgen Klopp trainiert ab dem 1. Juli, sprich ab der nächsten Saison, den BVB. Klopp kommt von Mainz 05. Die sind letzte Saison Vierter in der 2. Bundesliga geworden, Dortmund beendete die Spielzeit im Oberhaus auf Rang 13. Anschaulich, aber absolut unrealistisch, ausgedrückt verbessert er sich also um neun Plätze. Sportlich ein Karrierehopps, prestigetechnisch - um es mit Neil Armstrong zu sagen - "a giant leap".

Das Ende der Ehe Klopp-Mainz machte Sinn. Irgendwann hätte ich auch die Schnauze voll von Karnevalsverein und ZDF. Ob es bei ihm nach 18 Jahren ganz so schlimm gewesen ist, bleibt unklar, doch der Drang nach Veränderung wird ihn letztendlich zu seiner Entscheidung getrieben haben. Zumal er nun seit Jahren durchweg gelobt wurde, sich keinerlei Kritik stellen musste. Irgendwann entsteht dann zuviel positive Routine, so dass der berüchtigte Tapetenwechsel lautstark ruft. Klingt komisch, dass ein Dasein als Vorzeigetrainer irgendwann stört, aber der Mensch lechzt nach Herausforderungen.

Um seine Wahl pro Dortmund zu beschreiben, entscheide ich mich - womit ich einem "falsch" oder "richtig" aus dem Weg gehe - für ein nüchternes "mutig". Entweder sie jagen ihn spätestens nach der nächsten Saison aus dem Verein - Watzke und Zorc tragen die Mistgabeln, die Fans werden ihnen folgen - oder Dortmund qualifiziert sich diesmal richtig für den UEFA-Cup und gilt im Sommer 2009 als Meisterschaftskandidat. Für mich ist das Unternehmen Klopp eine "hopp"- oder "top"-Geschichte.

Es ist wichtig, dass es Jürgen Klopp jetzt endlich mit 40 Jahren in die weite Fußballwelt hinauszieht und er einen neuen Schritt wagt. Entweder er beweist, dass sein Konzept und seine Trainerideologie überall ankommen und Erfolg kein Mainzer Phänomen war, oder - was wir ihm nicht wünschen wollen - seine Zeit in Dortmund ist schneller vorbei als sie begonnen hat.

Man spricht besonders in den Medien gerne vom "Trainertyp Doll/Klopp". Das umschreibt einen jungen und dynamischen Coach, der "die Sprache der Spieler" spricht und in diesen Fähigkeiten den Schlüssel zum Erfolg sieht. Ein Mitglied des Duos ist vor Wochenfrist zum zweiten Mal gescheitert. In Hamburg ging es von 18 auf 3 und wieder zurück auf 18. Dann war Schluss. Den BVB übernahm Doll mitten im Abstiegskampf der Saison 06/07. Nach dem 5. Spieltag der abgelaufenen Spielzeit stand Dortmund auf Rang 4, es ging runter auf 13. Trotz Pokalfinale und UEFA-Cup-Quali gingen dann für Doll die Lichter aus. Er drückte den Schalter freiwillig, weg ist er trotzdem.

Entweder Klopp wirft seinen "Partner", den er nie zu seinem "Partner" gemacht hat, über Bord und hat in Dortmund Erfolg, oder der "Trainertyp Doll/Klopp" gilt in einem Jahr als gescheitert. Da war es schon wieder: Ein "entweder, oder".

Vielleicht muss sich Klopp auch ärgern, dass er die Verhandlungen mit dem BVB wohl bereits nach Dolls Rücktritt am Montag aufgenommen hat, spätestens am Dienstag. Vor zwei Tagen, am Mittwoch, hat Bayer Leverkusen Michael Skibbe geschasst. Wäre ich Trainer, ich würde lieber in Leverkusen als in Dortmund arbeiten. Mal sehen, wie lange es dauert, bis ich hier über den "Typ Slomka" sprechen kann und mich frage, ob der Ex-Schalker in Leverkusen bestehen kann.

Donnerstag, 22. Mai 2008

Weltklasse, die

Kai Dittmann bekam gestern gar nicht genug davon, Cristiano Ronaldo als "derzeit besten Fußballer der Welt" in den Himmel zu loben. Dabei ist Weltklasse nicht gleich Weltklasse.

Der gestrige Abend hat einmal mehr gezeigt, dass der beste Fußballer der Welt und der beste Spieler der Welt zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Genauso wie die Oscar-Kategorien "Bester Song" und "Beste Filmmusik".

Cristiano Ronaldo ist unumstritten der beste Fußballer, weil er Dinge mit dem Ball kann, die nur eine handverlesene Anzahl von Fußballern dieser Welt auf die Reihe kriegt, ohne sich sämtliche Bänder zu reißen. Er ist zudem schnell, athletisch und schießt, obwohl er nicht gerade den bulligen Typ Mittelstürmer verkörpert, unzählig viele Tore. Deswegen gibt es keinen anderen Menschen, der das Handwerk selbst so gut beherrscht.

Doch Fußball besteht nicht nur aus Toren, Übersteigern und Tempodribblings. Teamgeist, Disziplin und charakterliche Fähigkeiten machen aus einem guten Fußballer erst einen ebenso guten Spieler. Michael Ballack spielt fußballerisch trotz seiner momentan überragenden Verfassung mit Sicherheit eine ganze Liga unter Cristiano Ronaldo. Aber allein sein verwandelter Elfer, seine Position als Teamleader und seine von enormem Willen zeugende Tränen nach dem Elfmeterschießen lassen den Abstand zum Portugiesen um einiges schrumpfen. Der spielt am Elfmeterpunkt den Kasper, leistet sich das No-Go des Abstoppens und bringt es dann nicht einmal fertig, seinen Schuss zu versenken. Trainer, Fans und Funktionäre verzweifeln daran. Ihn selbst schien das nicht sonderlich zu kümmern. Wie selbstverständlich stolzierte er als Erster die Treppen hoch, um seine Medaille entgegen zu nehmen.

Cristiano Ronaldo wird nie einer für die Kapitänsbinde sein - und wenn, dann trägt er sie nach dem Der-Beste-nimmt-die-Binde-Prinzip. So einem Menschen nach dem Spiel auch noch beim Jubeln zusehen zu müssen, bringt mich zur Weißglut und Verzweiflung. Es gibt eben keine Gerechtigkeit. Ein Ergebnis berechnet sich nicht nach der größeren Anzahl der Torchancen, oder den Sympathiewerten der einzelnen Spieler. Zumal Chelsea ein Pendant zu Cristiano Ronaldo in seinen Reihen hat – Didier Drogba. Weltklasse mit dem Ball und vor dem Tor – unterirdisch in allen anderen Belangen.

Nicht immer wird berücksichtigt, was ein Spieler außerhalb des Strafraums, fernab der Torlinie auf die Beine stellt. Was er sagt, wie er sich gibt, das fließt viel zu selten in die Bewertung ein, wenn der "beste Fußballer der Welt" gekürt wird. Ich prophezeie an dieser Stelle kühn, dass Ronaldo seine Mannschaft weder zum EM-Titel führen noch mehr als drei Treffer erzielen wird.

Denn bei einem großen Turnier sind Kabinettstückchen soviel Wert wie der Rasen im Moskauer Stadion.

Mittwoch, 21. Mai 2008

Fußball-Klaustrophobie

Der gestrige Blick in den Videotext hat mich geschockt. Grund waren die neuen Spielpläne der 1. und 2. Bundesliga: 15 Stunden Fußball am Wochenende, ist das meine Berufung? Nein, ich will nicht. Oder doch?

Man sollte den guten, alten Videotext definitiv nicht unterschätzen. Einmal am Tag, meist zur Mittagszeit, gönne ich mir die Seiten 200-230 auf ARD und ZDF. Man könnte jetzt eigentlich davon ausgehen, dass das Internet den Videotext genauso wie Rundfunk und TV längst abgehängt hat, was die Schnelligkeit angeht, mit der wichtige Nachrichten zum Otto-Normal-Fußballfan durchsickern. Doch das ist – wie ich gestern mal wieder feststellen musste – bei weitem nicht der Fall.

Während die Schlagzeilen online zwar unterm Strich schneller abrufbar sind, gehen sie jedoch in ihrer Fülle und aufgrund der Schwemme von relevanten Anbietern mittlerweile regelmäßig unter. Im Videotext sind die gleichen Nachrichten - häufig sogar textidentisch, weil vom sid verbreitet - fast zeitgleich abrufbar, jedoch fiel schneller zu finden. Und so war es gestern am frühen Abend eben einmal mehr der Videotext, der an meiner Tür klingelte und eine der ungeliebten Hiobsbotschaften überbrachte: die Spieltagszusammensetzung der 1. und 2. Bundesliga ab der Saison 2009/2010.

Ok, die BILD fiel schon morgens mit der Tür ins Haus. Aber in China könnte der berühmte Reissack umfallen, davon würde ich unter Umständen früher Wind bekommen, weil ich eher Annoncen auf Klopapierrollen in öffentlichen Toiletten lese als die Bild-Zeitung.

Am liebsten hätte ich auf der Stelle ein Beschwerdeschreiben an die DFL aufgesetzt, das parallel mit einer Klage adressiert ans Kriegsverbrechertribunal in Den Haag im Briefkasten gelandet wäre. Doch nachdem mir im ersten Augenblick keinerlei Argumente für die neue Regelung eingefallen waren, sondern nur niederschmetternde Tatsachen à la „wir armen Fans“, lichtete sich der Ärger nach ein paar Stunden, so dass ich inzwischen – steinigt mich, oder stimmt mir zu – den Plänen zumindest 50:50 gegenüber stehe.

Fassen wir erst einmal zusammen, was neu ist:

Bundesliga

alt:
1 Spiel am Freitag um 20:30, 6 Spiele am Samstag um 15:30, 2 Spiele am Sonntag um 17:00

neu:
1 Spiel am Freitag um 20:30 (achtmal pro Saison – jeweils nach Länderspielen – samstags um 20:30), 5 Spiele am Samstag um 15:30, 2 Spiele am Sonntag um 14:45, 1 Spiel am Sonntag um 17:00 (bis zu achtmal pro Saison sonntags um 20:30)

2. Bundesliga

alt:
3 Spiele am Freitag um 20:30, 5 Spiele am Sonntag um 14:00, 1 Spiel am Montag um 20:15

neu:
3 Spiele am Freitag um 18:00, 1 Spiel am Samstag um 13:00, 4 Spiele am Sonntag um 12:30, 1 Spiel am Montag um 20:15 (wenn kein Freitagsspiel in der 1. Liga, dann achtmal freitags um 20:30 – so wie ich es verstanden habe)

Wer schon immer davon geträumt hat, nicht nur 24/7 an Fußball denken zu dürfen, sondern sich ab Freitagabend um 18 Uhr bis sonntags um sieben gerne in sein Wohnzimmer sperren will, ohne dazwischen einen Fuß vor die Tür zu setzen, der wird gestern jubelnd von seinem durchgesessenen Sessel aufgesprungen sein. Ich gehöre übrigens nicht dazu, denke zwar – wenn ich nicht gerade an etwas anderes denken muss – gerne an Fußball. Aber eigentlich hatte ich vor, mein Wochenende bis auf den Samstag- und Sonntagnachmittag wenigstens halbwegs ohne Fußball zu verbringen.

Vorher gab es sechs Termine (Fr. 18:00, Fr. 20:30, Sa. 15:30, So. 14:00, So. 17:00, Mo. 20:15), die man sich merken musste. Ab 2009 werden es mindestens acht sein. Theoretisch wird es in Zukunft durch das glorreiche „Topspiel des Monats“ zehn verschiedene Kombinationen von Tagen und Uhrzeiten geben. Das bedeutet, dass man sich anstatt 6 x 90 = 540 Minuten (wenn man sich die Vor-, Halbzeit- und Nachberichte spart) nun bis zu 720 Minuten am Wochenende mit Live-Fußball aus Liga 1 und 2 vertreiben kann. Von Freitag um 18 Uhr bis Montag um 22 Uhr verbrächte man somit – abzüglich acht Stunden Schlaf pro Nacht und einen ebenso langen Arbeitstag am Montag – 16 von 60 Minuten vor dem Fernseher. Ich spare es mir jetzt die Sportschau, das Aktuelle Sportstudio und sämtliche Hattrick-Sendungen dazuzurechnen.

Vom 1. Februar bis zum 7. Mai dieses Jahres fanden an 83 von 97 Tagen entweder Bundesliga-, Zweitliga-, DFB-Pokal-, UEFA-Cup-, Champions-League- oder Länderspiele statt. Es ist also nicht so, dass der berüchtigte Rahmenterminkalendar derzeit irgendjemanden fußballerisch dehydrieren ließe. Es ist ebenfalls nicht der Fall, dass mich diese Fülle an Fußball erdrückt. Mich beschleicht schlichtweg die Angst, dass es irgendwann den Tag geben könnte, an dem ich den Fernseher samstags um halb vier genervt ausschalte und die Düsseldorfer Rheinauen aufsuche, um dort ein Picknick mit Freunden zu veranstalten (ohne Nutella, um bloß nicht in das Gesicht eines Fußballers blicken zu müssen).

Man kann also sagen, dass die Pläne der DFL mich beängstigen, weil sie mich irgendwann dazu bringen werden, einer Sucht ins Gesicht zu sehen, zu realisieren, dass ich nicht anders kann. Obwohl mir das irgendwie auch so längst klar ist.

Diese Sucht hat einen eigentlich wunderschönen Nebeneffekt namens Dauerkarte, der ab der nächsten Saison zudem noch den Zusatz „Auswärts-“ bekommen soll. Das bedeutet, ich werde mich im nächsten Jahr (Jahre beginnen stets im August und enden im Juni, den Juli gibt bekanntlich nicht) theoretisch an 32 Wochenenden – die im Schnitt zwei Englischen Wochen abgezogen – auf dem Weg in den Borussia-Park oder in eines von 17 anderen Bundesliga-Stadien befinden.

Darauf freue ich mich und bin froh, dass ich mir geschworen habe nur die Zivildienst-Saison vor dem Studium für dieses Sisyphos-Programm zu nutzen. Doch wie ich mich kenne, werde ich auch im Jahr danach alle Hebel in Gang setzen, um meiner Borussia hinterher zu reisen. Denn wenn einmal die nächste Stufe der Verrücktheit erklommen ist, gibt es selten ein zurück. Aber das ist ein ganz anderes Thema.

Früher konnte man als Arbeitnehmer davon ausgehen, dass man sich einfach den Freitagabend frei hält (Samstagsarbeiter müssen bei Heimspielen um zwei Uhr Feierabend machen) und schon eine Kollision von Job und Fußball ausgeschlossen ist. Vor allen Dingen gebeutelte Zweitliga-Fans werden nun vor eine harte Probe gestellt, da sie sich erstens nicht mehr auf den fußballfreien Samstag verlassen können und zweitens direkt nach dem Frühstück ins Stadion aufbrechen müssen/dürfen – es sei denn sie sind Platzwart desselbigen.

Vor lauter Frust über die Zwangsjacke Live-Übertragung bin ich jetzt immer noch nicht dazu gekommen, die wenigen – aber, so viel Ehrlichkeit sei angebracht, dennoch vorhandenen – Argumente für einen derartigen Spielplan zu erwähnen, wie ihn sich die DFL zusammengezimmert hat. Eigentlich beeinflussen sie mein Fandasein auch nur marginal. Denn was habe ich schließlich von ein paar Milliönchen mehr für meinen Verein, wenn sie jeder Klub abbekommt?

Die verlängerte Ruhezeit sei den im Europacup aktiven Spielern gegönnt. Ich wäre ohnehin dankbar, wenn ich mich in absehbarer Zeit einmal darüber echauffieren dürfte, dass die Borussia nach einem UEFA-Cup-Spiel in Zagreb nur 39 Stunden Regenerationszeit zur Verfügung hat, bis sie als Tabellenführer den FC Bayern München in der Bundesliga empfängt. Von daher ist das meiner Ansicht nach sowieso ein Luxusproblem. Das verschobene Samstagsspiel auf den Sonntag ist damit verziehen. Nicht so die kannibalische Zerstückelung des Sonntages.

12:30 Uhr, 14:45 Uhr, 17:00 Uhr – zwischen den Spielen der 2. und 1. Liga bleibt je eine halbe Stunde, die gerade einmal dazu reicht, den Backofen vorzuwärmen und eine Pizza zu backen. Zum Glück hat sich die Borussia aus der Zweiten Liga wegrationalisiert, so dass mich Spiele wie Sandhausen gegen Wehen nicht unbedingt interessieren müssen. Es sei denn, Gladbach plant den Wiederwiederabstieg und ich habe die Aufgabe, die Gegner für die nächste Zweitligasaison zu scouten.

Insgesamt 18 Live-Spiele pro Saison gönne ich der ganzen Welt genauso, wie den Spielern ihre Ruhepause. Aber ich gehe davon aus, dass jeder, dem so viel daran liegt, entweder eine Dauerkarten besitzt, samstags um 15:30 Uhr eine Kneipe aufsucht, oder ein Premiere-Abo besitzt. Somit werden größtenteils die sporadischen Gucker belohnt, die "Neutralen" und all jene, die "ihrem" Verein, wenn es hoch kommt, 30 Euro pro Jahr in die Taschen spülen.

Und während ich mir hier meinen Frust über die DFL, meine Sucht und den UEFA-Cup von der Seele geschrieben habe, fällt mir auf, dass das mit der 50:50-Einstellung vollkommener Blödsinn war. 90:10 – darüber können wir uns unterhalten. Vielleicht auch noch über 89:11 – aber dann ist Sense.

Dienstag, 20. Mai 2008

Wie die Faust aufs Auge (9)

"Meine Freundin kann leider nicht mit, denn sie geht ja noch zur Schule."

- O-Ton von Marko Marin in der Rheinischen Post von heute.

Wie putzig. Meine Eltern haben mir übrigens als Belohnung fürs Abitur versprochen, dass ich in diesem Jahr die EM-Spiele am Abend ganz zu Ende gucken darf. Endlich, vorbei die Betteleien um "wenigstens eine Halbzeit, am liebsten die zweite".

Jogi Löw kann ja froh sein, dass die EM nicht schon letztes Jahr stattfand. Dann hätte sich Marin möglicherweise selbst abmelden müssen: "Schuldigung Herr Löw, aber wir schreiben Dienstag Mathe und ich muss bis Donnerstag noch die Deutsch-Lektüre auslesen. Ich kann leider nicht mit zur EM fahren". Lukas Podolski und - ohne in blinde Abschätzigkeit zu verfallen - wohl auch Kevin Kuranyi wären nie und nimmer vor dieses Problem gestellt worden. Schließlich haben sie die Schule bereits zu C-Jugend-Zeiten abgeschlossen.

Wobei ich sagen muss, dass ich schon schockiert bin: "Mein" Jahrgang spielt in diesem Jahr erstmals ein großes Turnier. Ich werde alt.

Montag, 19. Mai 2008

Zwischen Glücksgriffen und Vollrausch

Wie die Zeit verrinnt: Scheinbar gestern noch den Kader zusammengestellt, heute ist schon alles vorbei. Ein Überblick über meine Ergebnisse aus zwei Ligen und zwei Spielvarianten beim Kicker-Managerspiel.

Vorneweg sei noch gesagt, dass ich alle Teams zusammen mit meiner Mutter erstellt habe, wobei sie sich jeden Freitag meist fürsorglicher um die Aufstellungen gekümmert hat als ich. Dafür sei ihr an dieser Stelle gedankt.

Classic Bundesliga:

Gesamt: -2 Pkt./Platz 120420
Top-Platzierung Spieltag: 7226 (31.)
Flop-Platzierung Spieltag: 200856 (34.)

Kader: Drobny - Pander, Tarnat, Kleine, Gledson - Hilbert, Munteanu, Meier, de Jong, Gentner, Rydlewicz - Ishiaku, Charisteas, Sand

Fazit: Drobny ein totaler Flop, Pander so gut wie nur verletzt. Alex Meier hat nach gutem Beginn seit dem 11. Spieltag keine Partie mehr absolviert, Sand im Laufe der Saison keine einzige für Bochum, Rydlewicz ganze fünf. Gledson hat erst gespielt, als er von Stuttgart zurück nach Rostock ging. Kleine und Munteanu sind in der Winterpause in andere Ligen gewechselt. Hilbert konnte nicht annähernd an seine starke letzte Spielzeit anknüpfen. Gentner und de Jong waren noch ganz ordentlich, Ishiaku hat immerhin zehnmal getroffen, während Charisteas als größter Chancentod der Saison in die Annalen eingeht. Unterm Strich bleibt nur ein Urteil: Entweder war es schon sehr spät damals im August oder ich selbst war hackestrunzedicht.

Classic 2. Bundesliga:

Gesamt: 121 Pkt./Platz 25340
Top-Platzierung Spieltag: 519 (21.)
Flop-Platzierung Spieltag: 62289 (13.)

Kader: Neuhaus, Tschauner - Schönheim, Brouwers, Khizaneishvili, Schuon - Marin, Epstein, O. Mokhtari, Lagerblom, Simak, Grüter - di Salvo, Maierhofer, Friend

Fazit: Die Aufsteiger Friend und Marin retteten zusammen mit Jan Simak eine einigermaßen respektable Platzierung und mussten wett machen, was Lagerblom und di Salvo verbockt haben. Khizaneishvili wurde ganz zwei Male eingesetzt, Maierhofer ging nach Wien und traf dort plötzlich am laufenden Band. Der Rest spielte eine Saison im absoluten Niemandsland. Die Endplatzierung unter den besten 40% stimmt mich relativ zufrieden aufgrund der Anzahl von je drei Spielern, die entweder abgestiegen oder dem Gang in Liga Drei nur knapp entronnen sind.

Interactive Bundesliga:

Gesamt: 791 Pkt./Platz 65302
Top-Platzierung Spieltag: 4824 (9.)
Flop-Platzierung Spieltag: 245930 (31.)

Kader: Adler, Langer, Hahnel - Gledson, Kyrgiakos, Franz, Haggui, Tarnat, Rodenberg - Hilbert, Diego, Hajnal, Misimovic, de Jong, Ebert, Ben-Hatira, Meißner - Sestak, Sanogo, Pagenburg, Lavric, Lauth

Fazit: Langer, Hahnel, Rodenberg, Ben-Hatira, Meißner, Pagenburg waren allesamt Notlösungen, die den Kader preiswert komplettierten. Geld steht eben leider nur begrenzt zur Verfügung. Sieben Mann sind höchstens zweimal eingesetzt worden, was vor allen Dingen in der Abwehr von Zeit zu Zeit für Personalengpässe sorgte. Adler und Hajnal erwischten als einzige eine überragende Saison, wobei letzterer zum Schluss wie seine ganze Mannschaft merklich nachließ. Diego ist erst in der Winterpause dazugestoßen - hat nach circa 150 Zählern in der Hinrunde danach nur noch 28 für mich erspielt. Gledson, Tarnat und Hilbert waren dieselben Fehlgriffe wie in der Classic-Variante. Vorne überraschte Sanogo zwar mit seinen Toren, am Ende waren es jedoch nicht genug. Sestak traf nach einer Gekas-Hinrunde zwar noch regelmäßig, büßte notentechnisch aber ziemlich ein. Es war mehr drin, denn das Verletzungs- und Transferpech hielt sich in Grenzen. Doch vor allem am Ende ging's bergab - 20000 Ränge innerhalb von drei Wochen.

Interactive 2. Bundesliga:

Gesamt: 1033 Pkt./Platz 2698
Top-Platzierung Spieltag: 108 (28.)
Flop-Platzierung Spieltag: 71043 (33.)

Kader: Sippel, Haas, Eilhoff - Subotic, Nilsson, Butscher, Brouwers, Janker, Jeknic - Lanig, Marin, Thorandt, Simak, Schultz, Traut, Schüßler, M. Vrancic - Friend, Reichenberger, Bogavac, di Salvo, Ruman

Fazit: Die drei Torhüter waren echte Punktegaranten. Sippel ersetzte in der Winterpause Haas als Stammkeeper - für 0,1 Mio. natürlich ein echtes Schnäppchen. Auch auf die Abwehr war stets Verlass. Subotic überraschte als junger Mainzer Neuzugang, machte alle Spiele mit. Brouwers ebenso mit konstant guten Noten. Butscher fuhr als Wintertransfer zwar weniger Punkte als in der Hinrunde ein, dennoch waren es immer noch genug. Im Mittelfeld enteilten Marin und Simak dem Rest. Lanig wie Butscher ein guter Neueinkauf, dennoch nicht so gewinnbringend wie in der Hinserie. Ansonsten viele mittelmäßige Spieler, die mal überzeugten und häufig auch einen schlechten Tag erwischten (Schultz, Thorandt, Schüßler). Im Angriff holte Friend genügend Punkte für zwei Spielzeiten, wahrer Glücksgriff. Di Salvo und Ruman sind normal sichere Torschützen. Der 60er fing stark an, ließ noch stärker nach. Ruman war lange verletzt, nur sechs Einsätze in 07/08. Reichenberger war nach zwölf Toren in der Hinrunde nur noch viermal erfolgreich, kleiner Flop. Ansonsten eine klasse Saison, die beste meiner vier Mannschaften: Sechs Aufsteiger, der zweitbeste Torjäger, Neulinge, die gut einschlugen und nur drei Absteiger, von denen einer der drittbeste Punktesammler nach Friend und Subotic gewesen ist. Eine Platzierung unter den besten 2000 ist erst am Ende verspielt worden, lag nie schlechter als Rang 6300 im Rennen, zwischenzeitlich schien die Top1000 sogar in Reichweite.

Sonntag, 18. Mai 2008

UEFA-Cup + Hertha = fair?

Dieselbe Frage stellt sich 11Freunde.

Pro Hertha: Wer es schafft, Josip Simunic ein Jahr lang ohne Platzverweis durchzuschleppen, hat eine bemerkenswerte Leistung vollbracht und die UEFA-Cup-"Nominierung" absolut verdient.

Contra Hertha: Wer Dieter Hoeneß als Manager beschäftigt, sollte mit mindestens 50 Sünderpunkten in eine jede Saison geschickt werden, damit der Titel "fairster Verein" automatisch in weite Ferne rückt.

Himmlische Zeichen vom alten Fritz

Es gibt so Momente im Fußball, die bestärken einen in dem Glauben, dass da oben jemand sitzt und die Ereignisse steuert die uns Woche für Woche so in Ekstase versetzen.

Die Uhr zeigt ungefähr 15:20 Uhr am Lauterer Betzenberg. Fast 50.000 wollen ihre Mannschaft in die Zweite Liga singen, schreien und beten. Es steht 0:0, der FCK weilt in diesem Moment auf einem Abstiegsplatz. Der Sturz in die Drittklassigkeit, nach 45 Jahren Profifußball, ist nahe. Da öffnet sich der Himmel, als wolle der alte Fritz Walter seine "Lauderer" nach vorne treiben - mit seinem "Fritz-Walter-Wetter", das seine Geburt erlebte als man in Kaiserslautern noch um Meisterschaften und nicht gegen den Abstieg kämpfte, als es noch gar keine 1. und 2. Bundesliga gab.

Nach 70 Minuten schafft Simpson die Erlösung. Ziemer lässt mit einem Doppelpack innerhalb von elf Minuten das 2:0 und 3:0 folgen. Offenbach steigt ab, ohne an den 33 Spieltagen zuvor auch nur einmal auf einem Abstiegsplatz gestanden zu haben. Einer dieser Ränge war seit dem 15.Spieltag stets Lauterns Heimat gewesen, genau wie es an 30 von 33 Spieltagen der Fall war.

Jetzt ist der FCK gerettet. Es könnte mir vollkommen egal sein. Lautern hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten vieles verbockt, nicht gerade viele meiner Sympathien auf sich gezogen. Aber Beinah-Insolvenz, Stadionverkauf und Skandale hin oder her - so ein Verein gehört in den Profifußball. Basta. Wenn Ingolstadt, Ahlen und vielleicht auch Sandhausen zweitklassig sind, dann verdient sich das der 1.FC Kaiserslautern ohne dass man ein einziges weiteres Argument für den Verbleib im Profifußball anbringen muss.

Wäre das Spiel bei strahlendem Sonnenschein zu Ende gegangen, hätte niemand gefragt: "Und wo war das 'Fritz-Walter-Wetter'?" Aber im Nachhinein hatte man das Gefühl, der Fußballgott habe im Namen der Lauterer Legende ein Zeichen gen Betze gesendet.

Samstag, 17. Mai 2008

Bayern Nimmersatt

"Vizekusen", "Rekordmeister der Herzen" - Bayer und Schalke haben sich in den letzten Jahren so einiges anhören müssen, wenn am Ende der Saison wieder einmal nur Platz zwei zu Buche stand. Dabei sollte der Quell der Häme besser verstummen: Denn der Rekordvizemeister trägt denselben Namen wie der Rekordmeister.

Eigentlich ist das eine Überraschung. Irgendwie aber auch wieder nicht, da eine Mannschaft, die naturgemäß in neun von zehn Jahren um den Titel spielt und diesen (Gott sei Dank) dennoch längst nicht immer gewinnt, eben auch mal auf der Zwei landen kann. Achtmal ist Bayern München in 45 Jahren Bundesliga Vizemeister geworden. Doch Werder Bremen hat mit dem siebten Vizetitel in diesem Jahr den Anschluss hergestellt.

Die Bilanz von 21:8 was das Verhältnis von Platz 1 zu Platz 2 angeht kann sich aus Münchener Sicht noch immer sehen lassen. In Schalke sind sie fünfmal knapp an der Meisterschaft vorbeigeschrammt, ohne auch nur einmal am Ende ganz oben gestanden zu haben. Ähnlich erging es bislang des Leverkusenern, die das Kunststück vollbracht haben, viermal innerhalb von sechs Jahren das Ziel hauchdünn zu verfehlen - 2000 und 2002 gar am letzten Spieltag.

Hier die TOP6 der Vizemeister, die insgesamt 33 der 45 Vizemeisterschaften unter sich ausgemacht haben:

1. Bayern München: 8-mal
2. Werder Bremen: 7-mal
3. Hamburger SV: 5-mal
3. Schalke 04: 5-mal
5. Bayer Leverkusen: 4-mal
5. 1.FC Köln: 4-mal

Außerdem haben sich die Bayern in dieser Saison noch einen anderen Rekord gekrallt: Nur 21 Gegentore unterbieten den bisherigen Bestwert von Olli Reck um einen Treffer.

Freitag, 16. Mai 2008

"Es gab die erwarteten Überraschungen"

Also, ich bin ja aus abiturtechnischen Gründen noch relativ im Saft, was Stilmittel der deutschen Sprache angeht. Aber ich schaff es einfach nicht, hinter den Sinn dieses Satzes zu kommen.

Hat der Mann von N-TV denn jetzt erwartet, dass es Überraschungen geben wird, oder sind seiner Meinung genau die Überraschungen eingetreten, mit denen er fest gerechnet hatte?

Der Satz umschreibt jedoch die Aura einer Kader-Verkündung sehr passend. Das ist ein wenig wie Weihnachten: Man weiß, es kann keinen Weihnachtsmann geben, besteht aber dennoch auf Geschenke, die auch tatsächlich Jahr für Jahr unter dem Baum liegen.

David Odonkor ist dabei in diesem Jahr wie eine Wollunterhose von Tante Gaby, mit der fest zu rechnen war, die man aber nicht einmal jemandem wünscht, der ansonten gar keine Geschenke bekommt. (Tante Gaby entstammt übrigens meiner Phantasie.) Marko Marin ist dagegen meine persönliche Carrerabahn, von der immer gesagt wurde: "Nein, dafür bist du viel zu klein, dieses Jahr nicht". Oliver Neuville und René Adler ähneln dann eher dem Super Nintendo, um das so lange gebettelt wurde, dass gar keine andere Wahl mehr bestand - was der Freude jedoch keinesfalls einen Abbruch getan hat.

Donnerstag, 15. Mai 2008

Cup der Verlierer

Vier Millionen haben gestern auf Sat.1 UEFA-Cup geguckt, dazu noch ein paar auf Premiere. Ich war nicht dabei. Jemand anders vielleicht?

Ich schaue mir schon recht viele Spiele live im Fernsehen an, kann mich nicht dran erinnern, wann ich das letzte Mal ein Länderspiel oder ein Spiel meiner Borussia verpasst habe. Es gibt Leute, die kommen zudem nicht ohne Union Berlin - Dynamo Dresdem im RBB aus und können ihr Leben nicht weiterleben, ohne das Vorrundenspiel bei der U17-EM zwischen Irland und der Schweiz live gesehen zu haben. Ich kann darauf verzichten und zwischen "wichtig", "unwichtig" und "unwichtig, aber mir ist langweilig" sondieren. Wer das nicht kann, dem sei verziehen. Man wird ja ohnehin als Fußballfan genug belächelt.

Eigentlich verdient ein UEFA-Cup-Finale ohne mit der Wimper zu zucken das Prädikat "wichtig". Wenn die mündliche Abiturprüfung auf den selben Tag fällt, und am Abend mit dem Kumpels darauf angestoßen wird, kann ich auf St.Petersburg gegen die Rangers aber gelinde verzichten. Ich scheine ja auch nichts verpasst zu haben, den Russen bei der Siegerehrung zuschauen, das kann ich mir sparen. St.Petersburg ist mir schnuppe, wenn schon Glasgow, dann Celtic (ob ich das als Protestant überhaupt ungestraft sagen darf?). Es gab also nicht einmal irgendwelche ganz tief in mir schlummernde Sympathien, die mich gestern Abend irgendwie vor den Fernseher bewegt hätten. Mir fiel gestern um zwölf nicht mal ein, im Videotext nach dem Ergebnis zu gucken, bin heut Morgen in der Zeitung fast zufällig drauf gestoßen.

Bezeichnend, dass ich zuletzt 2005 ein UEFA-Cup-Finale geguckt habe. 2006 war ich in den USA, die zeigen da stattdessen lieber Softball und Golf. 2007, keine Ahnung mehr, war aber glaub' ich der Tag vor einem der vielen Maifeiertage. 2005 hat übrigens ZSKA Moskau gewonnen, vielleicht ist mein Verhältnis zum UEFA-Cup auch dadurch etwas gestört. Nächste Woche ist Champions-League-Finale - rot im Kalender angestrichen. Womöglich sind die Bayern mit ihrem "Cup der Verlierer"-Gerede auch Schuld an meinen Antipathien für den UEFA-Cup.

Olli für Deutschland!

11 Gründe, warum Jogi Löw nicht an Oliver Neuville vorbeikommt.

Alle zwei Jahre wieder, kommt der Bundestrainer auf die Erde nieder, wo wir Fußballfans sehnsüchtig auf das Aufgebot zur WM oder EM warten. Dieses Jahr ist der kleine Bruder der Weltmeisterschaft im Anflug. Jogi Löw wird sich diesmal nicht auf die Erde nieder begeben, sondern auf fast 3000 Metern morgen gegen halb zwei verkünden, wer mit ins Trainingslager auf Mallorca fliegt. Inzwischen sind sich viele einig: Löw wird morgen nicht nur 23 Namen verlesen, sondern vermutlich erst einmal einen vorläufigen Rumpfkader bekannt geben, bevor er sich am 28. Mai dann endgültig festlegt.

Im Groben und Ganzen ist die Zusammenstellung klar: Lehmann, Lahm, Jansen, Mertesacker, Metzelder, Fritz, A. Friedrich, Ballack, Frings, Hitzlsperger, Schweinsteiger, Rolfes, Klose, Podolski, Gomez und Kuranyi werden – alles andere würde doch sehr überraschen – auf jeden Fall dabei sein. Mit Westermann dürfte in der Abwehr auch zu rechnen sein, weil er wie Arne Friedrich vielseitig einsetzbar ist. Tim Borowski habe ich nach seiner aufsteigenden Form der letzten Wochen ebenso auf der Rechnung wie Piotr Trochowski, der – es sei denn Löw wagt eine Überraschung à la Marko Marin – in der Hinterhand als Mittelfeldwirbler im Aufgebot stehen könnte.

Jermaine Jones wird wohl zuhause bleiben, da Frings, Rolfes und auch Hitlzsperger allesamt auf der „6“ spielen können. David Odonkor spielt als Joker vielleicht noch eine Rolle. Ich bezweifle aber, dass jemals ein schlechterer Spieler zu einem großen Turnier gefahren ist, weshalb der Mann aus Sevilla überall hingehört, nur nicht zur EM. Roberto Hilbert hat nach einer schwachen Saison allenfalls Außenseiterchancen.

Im Tor dürfte Timo Hildebrand die Rolle der Nummer Zwei sicher haben. Ich vermute immer noch, dass Löw René Adler mit einer Nominierung für eine überragende, scheinbar fehlerlose Saison belohnen wird. Damit bliebe also nur noch ein Fragezeichen übrig: Wer fährt als fünfter Stürmer mit?

Eigentlich gebührt dem fünften Mann im Angriff eher eine marginale Rolle. Zumal Gomez, Kuranyi und Klose die besten drei deutschen Torschützen sind, zusammen 43-mal getroffen haben und auch Lukas Podolski mit mehr Einsatzzeit in einem anderen Verein über die Marke von fünf Treffern hinausgekommen wäre. Mit Sicherheit wird – wem auch immer diese Rolle zufällt – der fünfte Stürmer wohl kaum ein Spiel von Beginn an absolvieren. Doch in der Vergangenheit haben Joker in der Nationalmannschaft immer wieder eine entscheidende Rolle gespielt. Wer erinnert sich nicht an Dieter Müller ’76 oder an Oliver Bierhoff ’96?
Für mich führt kein Weg an Oliver Neuville vorbei und hier sind die Gründe.

Der 11-Punkte-Plan für Ollis EM-Nominierung:

1. Olli hat 15 Saisontore in der härtesten Zweiten Liga aller Zeiten erzielt, dazu zehn vorbereitet. Patrick Helmes – um darauf einzugehen, ob ein Zweitligaspieler in den EM-Kader gehört – hat zwar siebzehn Treffer auf seinem Konto, aber nur sechsmal seinen Mitspielern aufgelegt.

2. Ollis Tore sind immer enorm wichtig. Ohne seine Treffer hätte die Borussia elf Punkte weniger auf dem Konto. Zudem hat er achtmal den ersten Treffer der Borussia erzielt. Viermal hat sich kein anderer Borusse außer dem 35-jährigen auf dem Spielberichtsbogen verewigt.

3. Olli mag zwar 35 Jahre auf dem Buckel haben. Doch die sind ihm keineswegs nachteilig auszulegen. Er ist noch immer sprint- und konditionsstark. Vor allen Dingen besitzt er einen unbändigen Willen. Es kann 7:1 stehen – Olli ist nie zufrieden, solange er selbst nicht getroffen hat. Keiner seiner Konkurrenten um den fünften Platz im Sturm hat auch nur annähernd so viele Länderspiele auf dem Konto. Bis jetzt sind es 66, aber wie hat Udo Jürgens einst gesungen? „Mit 66 ist noch lange nicht Schluss“. Hanke, Helmes und Kießling kommen zusammen auf 17 Länderspiele und ein einziges Tor. Olli hat in fast zehn Jahren Nationalelf neunmal getroffen – mehrmals schon waren seine Treffer entscheidend, was uns zu Punkt 4 führt.

4. Ollis 1:0 gegen Polen in der Nachspielzeit ist mittlerweile legendär. Damals rückte nicht nur das Team zusammen, sondern auch der Schulterschluss mit den Fans, dem ganzen Land wurde vollzogen. Schon vier Jahre zuvor hatte Olli kurz vor Schluss bei einer WM getroffen. 2002 schoss er uns gegen Paraguay mit seinem 1:0 ins Viertelfinale.

5. Olli ist ungemein nervenstark. In der laufenden Saison hat er vier von fünf Elfern verwandelt. Vor zwei Jahren beim Sommermärchen schnappte er sich gegen Argentinien als Erster den Ball und versenkte ihn ohne mit der Wimper zu zucken. Solche Leute sind in einem 23er-Kader goldwert.

6. Jogi Löw weiß das zu schätzen, hat ihm immer wieder versichert, dass sein Zweitligadasein seine Chancen auf eine Nominierung nicht mindert. In Kapitän Michael Ballack hat er einen weiteren prominenten Fürsprecher. „Bei Oliver Neuville wissen wir, was wir haben. Er hat bei Turnieren mehrfach bewiesen, dass er uns mit Toren und spielentscheidenden Aktionen helfen kann", sagte Ballack vor ein paar Tagen über seinen alten Kollegen aus Leverkusener Tagen.

7. Als Zeichen für eine Nominierung kann auch die Tatsache gewertet werden, dass Neuville bei den Länderspielen gegen Zypern und Wales Ende letzten Jahres sogar wieder im Kader stand. Im Gegensatz zu Konkurrent Hanke, der damals ebenfalls mit von der Partie war, kam Olli sogar zum Einsatz. Vor der Reise nach Österreich im Februar musste er verletzt passen. Beim Spiel gegen die Schweiz verhinderte das Montagsspiel gegen Aachen die Fahrt nach Basel. Damals war Stefan Kießling – Neuvilles derzeit größter Konkurrent – dabei, wurde trotz des klaren Sieges jedoch nicht eingesetzt.

8. Aufgrund seines ruhigen Wesens wird Olli wortlos seine Rolle bei der EM annehmen, nicht aufmucken, sondern professionell seine Arbeit verrichten. Er kennt die Umstände eines großen Turniers. Für Helmes und Kießling sind die Neuland. Hanke stand 2006 wenigstens im Aufgebot und kam zu einem Kurzeinsatz gegen Portugal.

9. Ein Argument, dass nicht direkt für Olli, sondern eher gegen Kießling und Hanke spricht: Beide leisteten sich diese Saison in der Bundesliga Tätlichkeiten – so etwas kann man bei einer EM nicht gebrauchen.

10. Der schlaksige Gomez, der spielstarke Klose, das Kopfballungeheuer Kuranyi, der schussgewaltige Podolski – einen Typ Kießling, Helmes oder Hanke kann Löw eigentlich mehr brauchen. Alle sind zumindest einem der anderen vier viel zu ähnlich. Ein quirliger, technisch versierter Stürmer mit dem berühmten Auge für den Mitspieler fehlt Löw noch in seiner Sammlung. Olli würde diese Lücke hervorragend ausfüllen.

11. Olli liegt auch in der Gunst der Fans am weitesten vorne. In Umfragen muss er, wenn überhaupt, nur Stefan Kießling den Vortritt lassen.

Dienstag, 13. Mai 2008

Eine Laufbahn unterm Strich -
die neun Abstiege des Alexander Löbe

Es gibt Spieler, von denen man als Verein tunlichst die Finger lassen sollte. Vor allen Dingen, wenn sie, wie Alexander Löbe, so "geil" auf Abstiegskampf sind, dass sie mehrfach während einer Saison in den Keller der Tabelle wechseln. Als sei der Abstieg eine Mission für sie.

Manchmal wird man den Fluch dieser Spieler auf längere Zeit nicht los. Erzurumspor stieg ab, nachdem Löbe zu Beginn der Saison nach Trabzonspor gewechselt war. Steyr und Gütersloh traten nach dessen Weggang den leidigen Weg in die Insolvenz an.

Allein die SpVgg Radevormwald darf sich damit rühmen, alles richtig gemacht (bzw. eine Menge Glück gehabt) zu haben - Löbe hatte letzten Sommer geplant, seine Karriere dort ausklingen zu lassen. Er ließ es sein, wollte beim SC Paderborn, den er 2005 in die Zweite Liga geführt hatte, noch einmal Profiluft schnuppern. Seit letztem Wochenende ist der Abschied der Ostwestfalen in die neue Dritte Liga nach drei Jahren Liga Zwei perfekt. In Radevormwald durchleben sie derweil eine gute Saison in der Verbandsliga, liegen auf Platz drei - und an Alexander Löbe werden sie sich wohl spätestens jetzt nicht mehr ranwagen.

Zudem ist der 35-jährige wohl einer der wenigen, die in zwei aufeinander folgenden Spielzeiten den Aufstieg in die 2.Liga vollbracht haben. Vier Abstiege in vier Jahren sind ebenso rekordverdächtig wie fünf Abstiege in sechs Jahren mit einem Aufstieg dazwischen.

Die Abstiege des Alexander Löbe

1991/92: Hallescher FC -> in die Regionalliga
1992/93: SpVgg Unterhaching -> in die Regionalliga
1993/94: SG Wattenscheid 09 -> in die 2.Bundesliga
1994/95: MSV Duisburg -> in die 2.Bundesliga
1996/97: VfB Lübeck -> in die Regionalliga
1998/99: SK Vorwärts Steyr (Österreich) -> in die 2.Liga
2003/04: SG Wattenscheid 09 -> in die Oberliga
2006/07: Rot-Weiß Essen -> in die Regionalliga
2007/08: SC Paderborn -> in die Dritte Liga

Seine Aufstiege

1995/96: MSV Duisburg -> Aufstieg in die Bundesliga
2004/05: SC Paderborn -> Aufstieg in die 2.Bundesliga
2005/06: Rot-Weiß Essen -> Aufstieg in die 2.Bundesliga

Sonstiges

1998/99: FC Gütersloh (insolvent) -> in die Regionalliga abgestiegen (Löbe jedoch während der Saison gewechselt)
2000/01: Erzurumspor (Türkei) -> in die 2.Türkische Liga abgestiegen (Löbe jedoch nach dem 5.Spieltag gewechselt)
2001/02: Malatyaspor (Türkei) -> Aufsteiger rettet sich erst am letzten Spieltag

Montag, 12. Mai 2008

Star-Spangled Bayern

Der FC Bayern München darf sich für seine 20. Meisterschaft in der Bundesliga-Geschichte einen vierten Stern aufs Trikot bügeln. Na dann, Glückwunsch!

Zur Saison 2004/2005 hat die DFL, wie es in vielen anderen Ländern ebenso üblich ist, die sogenannten Meistersterne auf den Trikots eingeführt. Auf den Gladbacher Modellen, die seitdem in den Umlauf gebracht wurden, machen sich diese (ich will doch wohl hoffen, in Handarbeit) gestickten, goldenen Sterne ganz nett. Interessierte sich Bruce Darnell für Fußball, würde er an dieser Stelle sicherlich die Wichtigkeit von Accesoires hervorheben. Da er mit Fußball aber wohl wenig anfangen kann und zu allem Übel nicht für den Inhalt dieser Seite verantwortlich ist, hat er hier auch nichts zu melden.

Sechs Vereine in der Bundesliga (seit Mittwoch stimmt diese Aussage Gott sei Dank wieder) dürfen ihre Trikots mit Sternen schmücken. Die Bayern wie gesagt neuerdings mit deren vier, Gladbach mit zwei. Hamburg, Stuttgart, Dortmund und Bremen tragen einen Lone Star über den Rasen. Wenn man nun einmal bedenkt, dass die Borussia, also die einzig wahre jetzt, in 45 Jahren Bundesligageschichte fünf Titel geholt hat und annimmt, dass sienoch einmal so viele für den dritten Stern benötigen wird, dauert es voraussichtlich bis zum Jahr 2053, bis wieder ein Verein mit drei Sternen herumläuft (vorausgesetzt die restlichen Vereine machen proportional weiter wie bisher und Hoffenheim hält sich ein wenig zurück). Ich persönlich könnte damit leben, bis zu meinem 63. Lebensjahr noch fünf Meisterschaften zu gewinnen. Ehrlich gesagt, könnte ich vor meinem Tod sogar mit einer einzigen auskommen. Also, Fußballgott, falls Du das hier lesen solltest...

Die wikipedia zerbricht sicht derweil den Kopf über den Verteilungsschlüssel der Bundesligasterne. Die "italienische Variante" mit zehn Scudetti für einen Stella hätte hierzulande sicherlich nicht viel Anklang gefunden. Je ein Stern für fünf Titel, wie es in der Türkei fabriziert wird, hätte es auch nicht getan (Bayern würde bei seinen vieren bleiben, Gladbach bekäme als einziger weiterer Klub einen ab). Bei einem Stern für drei Titel hätte der FCB genauso gut mit der amerikanischen Flagge, den Stars-and-Stripes, auflaufen können. Dagegen hätten fünf andere Vereine mit je einem Exemplar auskommen müssen.

Hätte die Regelung bereits zum Start der Bundesliga im Jahr 1963 existiert, wäre dem FC Bayern 1973 der erste, 1980 der zweite, 1989 der dritte und eben in diesem Jahr der vierte Sterne zugekommen. Gladbach würde seit 1977 mit zwei Sternen spielen. Hamburg hätte 1983 Zuwachs auf dem Trikot bekommen, Werder 1993, Dortmund im Jahr 2002 und Stuttgart nach der letzten Saison. Es wären also nie mehr als zehn Jahre nach einer Sternenvergabe vergangen und ich lege meine Hand mal leichtfertig dafür ins Feuer, dass es auch bis zum nächsten Mal nicht so lange dauern wird, da Bremen bereits auf seinen zweiten lauert.

Nehmen wir die Verteilung mal so, wie sie ist. Abgesehen davon, dass unter Umständen die gesamte Sternenguckerei überflüssig ist, macht sie nämlich Sinn. Gerechtfertigt finde ich es auch, dass dem BFC Dynamo seine Sterne versagt wurden. Erst mithilfe der Stasi (man munkelt) zehnmal den Titel erringen, und dann auch noch den Sternenhimmel für sich beanspruchen? Nene, Genossen, so jeht dat nüsch.

Mal sehen, wie sich das "deutsche Verfahren" bei der Sternenverteilung in anderen Ligen auswirken würde:

In England hat es seit 1963 zehn verschiedene Meister gegeben. Fünf Vereinen würde dabei mindestens ein Stern zufallen: Liverpool (13 Titel/3 Sterne), Manchester United (12/3), Arsenal (6/2), Everton (3/1) und Leeds (3/1).

Die italienische Serie A hat im selben Zeitraum zwölf Meisterklubs gesehen. Nur drei würden jedoch vor lauter Erfolg Sterne sehen: Juventus Turin (15 Titel/3 Sterne), AC Mailand (9/2), Inter Mailand (7/2). Die AS Roma könnte sich am nächsten Wochenende den ersten Stern erspielen, falls sie Inter noch abfängt.

In Spanien sind die Meisterschaften etwas einseitiger verteilt. Sieben Vereine waren dort in den letzten 45 Jahren erfolgreich. Real Madrid (22 Titel/4 Sterne), Barca (10/3), Athlético Madrid (5/2) und Valencia (3/1) sind die einzigen vier Klubs, die Sterne auf ihren Jerseys tragen dürften.

Ein um Lichtjahre einseitigeres Bild bietet derweil die schottische Premier League. Die Glasgower Rivalen Rangers und Celtic haben 92 der 111 Meisterschaften in der Historie unter sich ausgemacht. Insgesamt hat es in mehr als einem Jahrhundert erst elf verschiedene Sieger gegeben - genauso viele wie in 45 Jahren Bundesliga. Seit 1985 hat es keinen anderen Meister mehr gegeben, zwischenzeitig holten die Rangers gar neunmal in Folge den Titel.

Zum Schluss bleibt aus deutscher Sicht also folgendes Fazit stehen: Verteilungsprinzip - in Ordnung, Sterne - nett, aber letztendlich ein krampfhafter Versuch das zu tun, was die meisten machen, nur um sagen zu können, dass man es tut. Wie das eben heutzutage häufiger der Fall ist.

Samstag, 10. Mai 2008

Deutschland sucht den Super-EM-Song

Dreikampf um die Vorherrschaft in den Ohren der deutschen Fußballfans: Christina Stürmer gegen Revolverheld gegen Oliver Pocher, DJ Bobo vorzeitig disqualifiziert

Es ist bezeichnend, dass Oliver Pochers deutschsprachige Version des Frameless-Songs "Black and White" - seinerzeit zur EM 2004 erschienen - weitaus größere Bekanntheit erlangt hat als das Original. Große Turniere finden nur alle vier Jahre statt. Und wenn Fußballfans sich dann schon mit Rock-, Pop- oder Was-auch-immer-Musik beschallen lassen wollen, fällt ihre Wahl gewiss nicht auf irgendwelche Retortenbands, No-Name-Grüppchen oder Castingsängerinnen, die die designierten Turnierhymnen häufig auch noch auf Englisch trällern.

Christina Stürmer hat "Fieber" - so recht nimmt man ihr das nicht ab. Schließlich sagt sie selbst, im Grunde nichts mit Fußball am Hut zu haben. Ihr Lied hat es zudem nicht einmal zum offiziellen EM-Titel gebracht. "Mr. Bombastic" Shaggy nimmt diese Rolle mit "Feel the Rush" ein - ein Jamaikaner singt die Hymne der Europameisterschaft. Paradox irgendwie. Mir soll's schnuppe sein, den großen Erfolg wird er damit diesen Sommer eh nicht landen.

Revolverheld machen es da schon einen Tick besser. Dieses Jahr sind sie so etwas wie die Sportfreunde Stiller der EM. "Helden 2008" taugt annähernd zum Ohrwurm, klingt häufig jedoch wie eine Kopie von "54,74, 90, 2006", der die Einprägsamkeit des Textes jedoch trotz dessen Einfachheit abhanden gekommen ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass "Helden 2008" bislang wenig gehört wurde.

Und so wird Oliver Pocher, man gönne es ihm oder lasse es sein, wahrscheinlich den Titel des EM-Song-Europameisters für sich beanspruchen können. "Komm bringt ihn Heim" kommt mit eingängigem Refrain daher, das Video mit mehr Witz als seine Konkurrenten der Revolverheld- oder Christina-Stürmer-Fraktion. Die Österreicherin beispielsweise sitzt mit ihren Jungs vor einem Wohnwagen und schaut sich die EM im Fernsehen an. Die Kulisse im Hintergrund erinnert an irgendeinen billigen Freizeitpark oder eine IKEA-Filiale. Pocher hat - wie schon 2006 - zwar wieder eifrig geklaut. Aber hier gilt einmal mehr: Besser gut geklaut, als schlecht selbst gemacht. Ich find's gut, zumindest besser als den Rest. Revolverheld ist vielleicht auch noch ganz nett.

Rainhard Fendrich darf zusammen mit den Wiener Sängerknaben ebenso sein Können unter Beweis stellen. Hymne - joa, Ohrwurm - nein. Einen Bezug zur deutschen Mannschaft gibt es freilich auch nicht. Christina Stürmer und Co. sind im wahrsten Sinne des Wortes eben einfach nicht der Hit.

In letzter Zeit hat es zudem für die offiziellen Lieder von ARD und ZDF häufig zu mehr Bekanntheit gelangt. Mal sehen, was die sich diesmal einfallen lassen.

PS: Auch wenn es die Chronistenpflicht verletzt, möchte ich aus ethischen Gründen an dieser Stelle kein Wort über DJ Bobos EM-Song "Olé Olé" verlieren.

Freitag, 9. Mai 2008

N-U-L-L Neuigkeiten

Für die deutsche Mannschaft gibt es hinsichtlich der EM, die in weniger als 29 Tagen beginnt, erfolgsversprechende Neuigkeiten: Unter Umständen könnte es erstmals bereits in der Vorrunde zum Elfmeterschießen kommen.

Vorausgesetzt, im letzten Gruppenspiel treffen zwei bis dahin punkt- und torgleiche Mannschaften aufeinander. Steht es dann nach 90 Minuten remis, wird aus elf Metern übers Weiterkommen entschieden.

Allzu grandiose Neuigkeiten sind das aber nun auch wieder nicht - schließlich würde das in diesem Fall für die Jungs von Jogi Löw bedeuten, dass sie nach den ersten beiden Spielen dieselbe Punktzahl wie ihre Gegner aus Österreich auf dem Konto haben. Wie die Ziffer aussehen wird, darüber herrscht allerorten längst Gewissheit: Rund, dickbäuchig, symmetrisch, und aus den Buchstaben N, U und zweimal L bestehend - "Null".

Also sparen wir uns unser Glück besser für die K.o.-Spiele auf. Zumal England uns diesmal nicht in die Karten spielen kann.

Herr Dutt, wie fühlen Sie sich?

Robin Dutt, Trainer des SC Freiburg, hat indische, genau genommen bengalische Vorfahren.

Ob die gleichnamigen Feuer aus Ostindien ihn in in arge Gewissenskonflikte bringen, wenn sie im Fanblock gezündet werden, ist nicht bekannt. Heimatgefühle oder strenge Verurteilung? Man müsste einfach mal nachfragen.

Donnerstag, 8. Mai 2008

Fohlengeflüster (27): Es ist vollbracht

„Es ist vollbracht“ – mit diesem Worten nahm ich vor einem Jahr verbittert den Abstieg der Borussia zur Kenntnis. Eine Saison später steht derselbe Satz für eine emotionale Zieleinfahrt. Einmal mehr hat sich das Blatt im Fußball vollends gewendet. Einmal mehr ist Nord- zu Südpol, ist aus einem Tief ein Hoch geworden. Der Mythos kehrt zurück. Das ist ab jetzt freudige Gewissheit.

Wer mich um viertel vor vier, mehr als ein ganzes Fußballspiel vor dem Anpfiff, wie gewohnt meine Dauerkarte in den vierten Ticketautomaten von links stecken sieht, der könnte zu der Ansicht gelangen, dass ich gar nicht mehr weg will aus dieser Zweiten Liga. Doch der Grund für mein äußerst frühes Erscheinen vor der hoffentlich entscheidenden Partie gegen Wehen liegt in zwei anderen Dingen: Einerseits zieht es meine Mutter so früh ins so gut wie leere Stadion, weil die F-Jugend von Viktoria Anrath, dem Heimatverein von 60er-Jahre-Legende Albert Brülls, der seine Spiele einen halben Kilometer von unserem Haus entfernt austrägt, das Vorspiel gegen die kleinsten aller Borussen bestreitet. Andererseits will der inoffiziell letzte Tag im Unterhaus noch einmal voll und ganz ausgekostet werden. Schließlich ist eine baldige Rückkehr nicht vorgesehen.

Alles ist angerichtet, um den Wiederaufstieg gegen den Aufsteiger aus Wehen-Wiesbaden unter Dach und Fach zu bringen. Die Sonne scheint vom Himmel wie Anno 2006 beim Sommermärchen. Das Stadion wird zwar nicht voll sein, aber gut gefüllt – perfekt, um wie am letzten Abend eines erholsamen und ereignisreichen Urlaubes auf dem Hotelbalkon mit Blick aufs Meer das letzte Glas Wein zu genießen. Wahrhaftig passt der Urlaubsvergleich wie die Faust aufs Auge zu einem Jahr, das man anfangs irgendwie aufgezwungen bekam und für das man dennoch letztendlich sogar dankbar ist. Der Verein hat eine radikale Kur hinter sich. Die Unmutsträger der Abstiegssaison sind weg, spielen nun in Mexiko oder in der Türkei gegen den Abstieg, während neue Hoffnungs- und Leistungsträger die Fans in letzter Zeit vollends optimistisch stimmen: „Oh welch ein Glück für unsere Stadt! Wir haben wieder eine Mannschaft, die in die Bundesliga passt!“. Dieser Gesang hat sich in letzter Zeit zum Chartbreaker in der Nordkurve aufgeschwungen.

Die Borussia mag am frühen Mittwochabend um kurz vor halb sechs zwar in die Bundesliga passen. Doch ob sie das in der nächsten Spielzeit auch unter Beweis stellen darf, steht zu diesem Zeitpunkt noch in den Sternen. Die Zweifel halten sich nach dem Kantersieg vor drei Tagen in Offenbach bedeckter als zuvor. Dennoch fehlt eben noch dieser eine Dreier, weshalb sich eine gewisse Anspannung unter das große Maß an Vorfreude mischt. Eines steht vor dem Anpfiff auf jeden Fall fest: Die 41500 Zuschauer, unter denen nicht einmal einhundert Wehener weilen, sind brandheiß, wollen ihre Mannschaft zum fehlenden Sieg singen, schreien, klatschen und peitschen.

Bevor sich nicht der gesamte Borussia-Park von seinen Sitzen erhoben hat (zumindest die, die es nicht ohnehin bereits tun), gibt Stadionsprecher Knippertz die „Elf vom Niederrhein“ nicht frei. Sogar das Mikrofon von Premiere muss dran glauben und wird missbraucht, um das Feuer endgültig zu entfachen. Als das Stadion dann geschlossen steht, weht ein gesanglicher und klatschender Orkan durchs weite Rund, wie ich ihn in den vier Jahren nach Ende der Ära Bökelberg nicht erlebt habe. Jeder hängt sich rein, als wolle er seine Handflächen blutig klatschen. Bei den ersten versagt bereits jetzt die Stimme. Es ist wieder einmal an der Zeit, das Wort „geil“ in den Mund zu nehmen. Meine Arm- und Beinhaare stehen vor lauter Gänsehaut so weit ab, dass sie die Vorstufe von Haarausfall erreicht haben. In solchen Momenten fühlt es sich an, als habe es nie einen Abstieg, nie eine Sekunde Traurigkeit gegeben, als halte dieser Verein nichts anderes als Glücksgefühle für seine Anhänger bereit.

Dabei sah vor einem Jahr alles ganz anders aus. Aber wenn Offenbach nach einer Demontage wie dem 1:7 gegen die Borussia innerhalb von drei Tagen auferstehen kann und auf einmal Freiburg die erst zweite Heimpleite der Saison zufügt, dann erscheint es gar nicht mehr so unmöglich, einen Traditionsverein vom Abgrund in den Himmel zu heben und aus Chancen tötenden Auswärtsdeppen das in allen Belangen beste Team der zweiten Liga zu machen. Genau das spürt der Borusse, während er seine Mannschaft bei der Vereinshymne feiert, als gebe es einen Dezibelrekord zu knacken.

Während man als Fan mitunter den Tränen nahe am Boden liegt, gibt es ebenso Tage, an denen einen das Gefühl beschleicht, dass heute – komme, was wolle – nichts, aber auch gar nichts schief gehen kann. Oliver Neuville verliert zwar die Seitenwahl, Wehens Kapitän Schwarz ist jedoch so nett und lässt uns in Hälfte zwei auf die Nordkurve stürmen. Was in gewisser Weise essentiell für einen gelungenen Abend ist: Die Borussia hat 19 ihrer bis zu diesem Tag 26 Heimtore auf die Nordkurve erzielt und die einzige Heimniederlage einstecken müssen, als Mainz im Februar die Seiten tauschte. In Anbetracht der Größe des Gästeblocks mit seinen neunzig treuen Seelen darin, der heute vielmehr einem Blatt Papier als einem Block ähnelt, kann es dem Aufsteiger, gelinde gesagt, schnuppe sein, auf welcher Seite er nun seine Gegentore kassieren wird. Denn die sind ohnehin fest eingeplant. Überhaupt habe auch ich natürlich wieder nichts dem Zufall überlassen: Wie seit Monaten habe ich den Pizzawagen ignoriert (letztmals gab es bei der Pleite gegen Mainz eine Pizza); extra einen Umweg im Kauf genommen, um bloß den richtigen Treppenaufgang zu Block 17A zu nehmen; dem Schweiß aus Offenbach widerstanden und getreu dem Ritual zwei Trikots angezogen.

Jos Luhukay ist mit dem Auftritt seiner Mannschaft in Offenbach anscheinend zufrieden gewesen – alles andere wäre, ehrlich gesagt, auch vermessen und überheblich. Aus diesem Grund schickt er dieselbe Anfangself auf den Platz. Touma spielt erneut anstelle von Ndjeng, obwohl der einen Doppelpack zum 7:1 beigesteuert hatte. Die Qual der Wahl. An der Zusammensetzung des Sturmduos hatte es aufgrund der Verletzung von Colautti und trotz der anhaltenden Torflaute von Friend keinerlei Zweifel gegeben. Zumal letzterer sofort auf sich aufmerksam macht.

Innerhalb der ersten siebzig Sekunden gießt er jedoch gleich zweimal Wasser auf die Mühlen derer, die behaupten er spiele zu oft Foul und könne mit dem Ball nur etwas anfangen, wenn er ihn direkt ins Tor befördern darf. Erst sorgt er nach sieben Sekunden fürs erste Foul der Partie, dann kann er den Ball in arger Bedrängnis – weil er eben nicht der schnellste ist – nicht ins Tor befördern. Doch irgendwie kann ich mich mit dem Kanadier identifizieren, weil ihn seine Spielweise an meine eigene erinnert. Er ist langsam, kein Filigrantechniker, aber dennoch am Ball, wenn er da sein muss und ab und zu blitzt dann doch einmal ein Fünkchen Spielkultur auf. Wobei ich mir bei einem Fallrückzieher, wie er ihn gegen 1860 beinahe erfolgreich fabrizierte, mit Sicherheit den Rücken gebrochen hätte. Aber aus diesem Grund stehe ich ja auch nicht auf dem Platz, sondern auf der Tribüne.

Von der ersten Minute an ist Wehens Ehrfurcht offensichtlich. Auf der anderen Seite wirkt die Angst vor der Blamage wie ein schützender Motor. Um die zehnte Minute herum nähert sich die Borussia dem ersten Treffer langsam aber sicher an. Erst will es Rösler nach einer Neuville-Flanke zu genau machen und verfehlt die anvisierte lange Ecke. Dann tritt Marko Marin zum ersten Mal an, schießt dem Ex-Gladbacher Richter im Tor des SV Wehen jedoch genau in die Arme. Kurz darauf ist es so weit und die Fohlen ernten die Früchte einer guten Anfangsphase: Marin liegt in Nähe der Mittellinie fast auf dem Hosenboden, rappelt sich auf und zieht drei hilflosen Gegenspielern unaufhaltsam davon. Seinen herrlichen Pass verwertet Neuville vom linken Strafraumeck zur Flanke, die Friend erst verpasst, Touma jedoch unhaltbar in die Maschen drischt. Die Last fällt allen von den Schultern. Das frühe Tor trägt umgehend zur Besänftigung bei und schon nach elf Minuten glaubt kaum jemand daran, dass die Aufstiegsfeierlichkeiten bis zum Spiel gegen Freiburg warten werden müssen.

Bis zur Pause taucht der VfL nur noch zweimal gefährlich vor dem Kasten von Richter auf. Neuville verfehlt aus 23 Metern knapp das Tor. Friend nähert sich nach einer guten Hereingabe des wie immer quicklebendigen Marin weiter seinem sechzehnten Saisontor an - dem ersten seit dem Heimspiel gegen St. Pauli-, ist jedoch noch nicht am Ziel seiner Durststrecke angeklangt. Dazwischen sorgt die Borussia bezeichnenderweise nach einer Ecke von Nicu selbst für Gefahr vor dem eigenen Tor. Levels klärt einen Schuss von König eher unfreiwillig genau in die Arme von Heimeroth. Das Gefühl des unmöglichen Scheiterns drängt sich weiter in den Mittelpunkt.

Von sechs erwähnenswerten Chancen, die bis auf zwei nicht wirklich zwingend waren, hat die Borussia eine genutzt, hinten nur eine zugelassen, weshalb es zur Pause standesgemäß 1:0 steht. Auf den anderen Plätzen deutet derweil nichts darauf hin, dass auch ein Remis zum vorzeitigen Aufstieg reichen würde. Köln und Hoffenheim führen, Mainz und Freiburg gehen torlos in die Kabine. Der provisorisch angefertigte Zettel, auf dem alle möglichen Szenarien aufgelistet sind, die uns selbst bei einem eigenen Unentschieden zum Aufstieg führen, verschwindet deshalb zusammengeknüllt in meiner Hosentasche.

Nach dem Seitenwechsel präsentieren sich die wackeren Aufsteiger aus Wehen immer mehr als perfekter Partner für ein Aufstiegsspiel. Sachte, aber dennoch merklich ziehen sie das Tempo an, oder vielmehr kann bei ihrem Auftritt nun überhaupt erst von Tempo die Rede sein. Wenige Sekunden nach Wiederanpfiff forcieren sie erst einmal die Torbeschaffungsmaßnahmen für Rob Friend. Der Kanadier düpiert um ein Haar Keeper Richter mit einem schönen Heber aus zwanzig Metern – ein Indiz für Friends schlummernden Torriecher. Knapp fünf Minuten nach der Pause wird das gesteigerte Engagement des Neulings aus Hessen mit der besten Torchance belohnt. Nicu verfehlt mit einem Volleyschuss das Tor. Sein Kollege Simac zwingt Heimeroth im Anschluss mit einem abgefälschten Kopfball zur ersten Glanztat.

Und so gibt uns der Gegner zu diesem Zeitpunkt das Gefühl, dass hier noch längst nichts in trockenen Tüchern ist und die spontane Feier mit einem einzigen Schuss platzen könnte. Doch gleichzeitig ruht im Hinterkopf, der in den letzten Wochen vor lauter leisen Zweifeln, dringendem Optimismus und mahnenden Fingern regelrecht überbeansprucht worden ist, die Gewissheit, dass in dieser Saison sechzehn von dreiundzwanzig Führungen über die Runden gebracht wurden, ohne zwischendurch auch nur kurzfristig den Ausgleich zu kassieren. Gänzlich schief ging es nach einem 1:0 ohnehin nur einmal – bei der bitteren Niederlage mit 2:4 in Hoffenheim.

In der Folge, nach der kleinen Drangphase der Gäste, setzt die Elf von Jos Luhukay voll und ganz auf das erlösende 2:0. Neuville tritt auf der rechten Seite an wie in besten Tagen. Hätte er den Ball zudem noch im Tor versenkt, wäre man unter den Augen von Bundestrainer Jogi Löw zu dem Fazit geneigt gewesen, der 35-jährige durchlebe seine besten Tage exakt in diesen Wochen. Inzwischen schäme ich mich dafür, vor ein paar Wochen Alterserscheinungen beim Gladbacher Publikumsliebling diagnostiziert zu haben.

Marin scheint sich derweil ebenso für die Europameisterschaft ins Gespräch bringen zu wollen. Einmal mehr lääst er zwei Wehener wie bestellt und nicht abgeholt stehen. Immerhin landen seine Schüsse nicht mehr ausschließlich butterweich in den Armen des Torwarts. Inzwischen ist er – wie in dieser Situation – auch zu gefährlichen Flachschüssen in der Lage, die das Tor nur knapp verfehlen. Nach einer guten Stunde scheint die Zeit für die Entscheidung gekommen. Doch Touma passt aus vollem Lauf quer, anstatt selbst den Abschluss zu suchen. Sein Pass landet ein wenig in Neuvilles Rücken, so dass sich genügend Gegner auf der Linie postiert haben, um den Schuss des Nationalspielers zu entschärfen.

Das Bild von der Rolle des SVW als perfekte Hebamme für die Geburt des Wiederaufstiegs erhärtet sich wenige Minuten darauf (das billige Wortspiel in Bezug auf „Wehen“ und eine Geburt verkneife ich mir an dieser Stelle). Nach nunmehr acht oder neun vergebenen Torchancen auf Borussenseite leistet sich Siegert an der linken Eckfahne ein dämliches Foul an Marin. Dessen Freistoß, der als leicht verkürzte Ecke in den Strafraum segelt, findet den Kopf von Rob Friend, der nach 724 torlosen Minuten endlich wieder einnetzt. Wie so oft im Fußball ist nach erreichten, häufig hohen und großzügig gesteckten Zielen, bei ihm der Wurm drin gewesen. Mannschaften, die überraschend frühzeitig vierzig Punkte einfahren, erfahren immer wieder aufs Neue ein Dilemma zum Saisonende. Genauso schien es sich lange mit Gladbachs bestem Torschützen zu verhalten, der nach seinem fünfzehnten Saisontreffer zwölf Stunden lang nicht ins Schwarze getroffen hatte.

„Nie mehr Zweite Liga!“ und „Oh, wie ist das schön!“ hallt es so entschlossen von den Rängen, als berge die komfortable Führung etwas Sensationelles. Ganz im Gegenteil, die Gesänge werden getragen von der Gewissheit, dass der VfL nun endgültig „wieder da“ ist – nicht vielleicht, nicht wahrscheinlich, sondern definitiv.

Knapp zehn Minuten vor dem Ende der Begegnung und der Zweitklassigkeit „schwappt La Ola durch das Rund“, wie es die „Elf vom Niederrhein“ Heimspiel für Heimspiel heraufbeschwört. Diesmal ist es feierliche Wirklichkeit. Selbst die zwei Reisebusladungen aus Wehen machen mit und erhalten dafür gebührenden Beifall. Spätestens jetzt verdient sich dieser Verein eine Auszeichnung als „freundlichster Gegner bei der Besiegelung eines Aufstieges“. Wer seine Rückkehr in die Bundesliga nicht geschenkt, aber eben auch nicht vorenthalten bekommen möchte, der sollte im vorletzten oder gegebenenfalls letzten Heimspiel den SV Wehen einladen – Prädikat „höchst empfehlenswert“.

Als sei der bevorstehende Aufstieg dafür verantwortlich, macht die Borussia bis zum Spielende einen Klassenunterschied deutlich. In weiß-schwarz spielt in den letzten zehn Minuten eine erstklassige Mannschaft, die gegen einen zweitklassigen Dorfverein immer noch nicht satt ist. Das 3:0 fällt erneut nach Einleitung von Marin. Seine Flanke klärt ein Gästeverteidiger genau vor die Füße des heranstürmenden Toumas, der den Ball erneut mit voller Wucht in die Maschen hämmert. Wenn die „Nie mehr Zweite Liga!“-Rufe zuvor laut waren, bedarf es nun einer Wortneuschöpfung. Jedenfalls ist die Stimmung sensationell, das Stadion steht und feiert seine Mannschaft in den verbleibenden Minuten ununterbrochen. Meine noch aus Offenbach gebeutelte Stimme geht langsam den Bach hinunter. Zum ersten Mal bei einem Heimspiel in dieser Spielzeit macht sich Heiserkeit breit.

Oliver Neuville wird mit stehenden Ovationen verabschiedet. „Olli für Deutschland!“, sendet der Borussia-Park seine Meinung an den hoffentlich aufmerksamen Bundestrainer. Auch Touma und Marin hatten den Platz zuvor mit viel Beifall verlassen. Christian Ziege, Jos Luhukay, Christofer Heimeroth – fast jeder erhält heute seine gesangliche Huldigung. Dabei bedarf es mitunter viel metrischer Veranlagung. Denn „Christian Ziege“ lässt sich anders singen als „Marko Marin“. Aber in Aufstiegswallung sitzt jeder einzelne Ton von ansonsten gesanglich eher unterbemittelten Fußballfans.

Bevor der unauffällige und meist souveräne Schiedsrichter Grudzinski die Party freigibt und das Spiel mit seinem Pfiff beendet, erfolgt aus den Lautsprechern die flehende Bitte, den Platz für heute bitte zu verschonen. Schließlich wartet in vier Tagen noch der SC Freiburg. Doch dann wird der Stadionsprecher das ausverkaufte Stadion wohl kaum mit einem Hinweis auf das ausstehende Grönemeyer-Konzert vertrösten können. Wofür braucht der auch Rasen?

Dann ist es vollbracht. Ein einziger Pfiff, der in mir die Last einer ganzen Saison löst, die von Spiel zu Spiel peu à peu ihren Aggregatzustand von „lästig“ bis hin zu „leidenschaftlich“ verändert hat. Nick Hornby heuchelt in seinem Buch „Fever Pitch“ schon Mitleid, wenn Arsenal einmal sechs Jahre in Folge keinen Titel einfährt. Dabei kann sich der englische Vorzeigefan wohl kaum vorstellen, wie es ist, wenn der dritte Aufstieg der Vereinsgeschichte mit dem zweitgrößten Erfolg des eigenen Fandaseins zusammenfällt.

Am Ende sind die Plänkeleien und Planungen des Aufstiegsdatums doch für alle zufrieden stellend ausgegangen: Am Ende noch ein wenig – wenn auch häufig selbst auferlegt – gezittert, einen historischen Auswärtserfolg in Offenbach gefeiert und das Ziel vor heimischer Kulisse gegen Wehen erreicht. Wer seit dem neunten Spieltag auf Platz eins weilt, der hat es sich redlich verdient, wählerisch zu sein.

Ich habe eigentlich seit Oktober unentwegt daran geglaubt, dass diese Saison letztendlich gut für uns ausgehen wird. Den Moment des Aufstiegs selbst habe ich mir dabei selten genau ausgemalt. Doch kein Traum hätte die Wirklichkeit schmackhaft genug machen können. Diese halbe Stunde nach Abpfiff entschädigt fast vollkommen für das Leid, die Schmach der Abstiegssaison mit nur 23 Toren und 26 Punkten. Daems und Levels rollen jubelnd über das Feld. Kühles Bier fließt gleichermaßen die Kehlen der Spieler wie die Nacken der Trainer hinunter. Die T-Shirts mit der Aufschrift „Wieder zuhause“ sind längst in Auftrag gegeben und kurz vor Spielende in dicken Kartons zur Auswechselbank gekarrt worden. Man hatte dran geglaubt, fest damit gerechnet, doch die Tatsache, dass auf dem Alten Markt noch keine Bierwagen aufgebaut wurden, verleiht diesem Moment dann doch noch etwas wohltuend Überraschendes. Mahnend hatte am Morgen die Geschichte von der geplatzten Lauterer Meisterschaftsfeier 1991 in der Zeitung gestanden, als sich eine ganze Stadt offiziell in Schale für große Feierlichkeiten geschmissen hatte und ausgerechnet die Borussia alles vermieste.

Als die Nordkurve ihren Trainer zur Humba bittet, lässt sich der sonst so ruhige Niederländer nicht zweimal bitten. Wenn auch mit leichten grammatikalischen Schwächen, die wohl auf das pochende Aufsteigerherz zurückzuführen sind, fordert er lauthals „gib’ mir die H … gib’ mir die U … gib’ mir die M“. Eigentlich erstaunlich, dass ausgerechnet ein Karnevalslied aus der Hochburg Mainz allerorten für ritualisierte Feierlichkeiten vor der eigenen Kurve herhalten muss.

Sascha Rösler muss danach am Elfmeterpunkt seine blonde Haarpracht opfern. Ein Hattrick dürfte für den nunmehr glatzköpfigen Blondschopf im nächsten Spiel vorprogrammiert sein. Denn so erkennt ihn mit Sicherheit kein Gegenspieler. All das sind unvergessliche Szenen einer Aufstiegsfeier, die jeder im Stadion mit viel Erleichterung und Ausgelassenheit wahrnimmt. Gladbachs drei Schwarzafrikaner geben einen sowohl amüsanten als auch Furcht erregenden Aufstiegstanz zum besten, der an die „Haka“ erinnert, den traditionellen Tanz der Maori, mit dem die neuseeländische Rugby-Nationalmannschaft seit jeher ihre Gegner vor dem Spiel in Angst und Schrecken versetzt.

Mit Angst und Schrecken wird Jos Luhukay den ausufernden Alkoholkonsum seiner Jungs zur Kenntnis nehmen. Aus „zwei, drei Bier“ scheinen dem Anfangspensum zufolge bis in die Morgenstunden „zwei, drei Fässer“ zu werden. Einer Mannschaft, die sich nach schwachem Saisonbeginn innerhalb weniger Wochen an die Tabellenspitze befördert und trotz krisenartiger Schwankungen nach der Winterpause weder Faden noch Kopf verliert, sollte man zutrauen, dass sie weiß, was sie tut. Alex Voigt hat die Aspirin schon auf dem Nachttisch platziert und sein ebenfalls aufstiegserfahrener Kollege Sascha Rösler ist ebenfalls nicht zu halten, verspricht dennoch, sich im letzten Spiel einmal mehr voll rein zu hängen.

Um die Eintausend Borussenfans lassen es sich nicht nehmen, den Alten Markt schon etwas früher als geplant in Besitz zu nehmen. Wo früher Netzer, Vogts und Heynckes die Meisterschale präsentierten, ist nach 20 Uhr einiges los. Aus den Kneipen ertönt von „You’ll never walk alone“ über „We are the Champions“ bis zur „Elf vom Niederrhein“ alles, was Fußballfans auch nur irgendwie in Wallung versetzt – wobei das zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr vonnöten ist. Gegen zehn Uhr trotten wir – meine Eltern, mein Bruder und ich – die verwaiste Hindenburgstraße hinunter. Man vergisst, dass es ein gewöhnlicher Mittwochabend ist, an dem alle Geschäfte geschlossen haben und selbst die Kneipen sich an relativ wenig Zulauf erfreuen.

Heute ist alles anders. Heute ist nicht irgendein Tag – es ist der Tag, an dem es vollbracht wurde: Der 7. Mai 2008. Ich kann mich nicht daran erinnern, an welchem Tag das Pokalfinale 1995 genau stattfand. Aber diesen Tag, den Tag, an dem die Heimkehr in die Bundesliga Wirklichkeit wurde, werde ich gebührend in Erinnerung behalten.

Dienstag, 6. Mai 2008

Fohlengeflüster (26):
Das letzte Abenteuer

Zwei Zahlen mit einem Doppelpunkt dazwischen sind eigentlich kaum der Rede Wert. Doch in diesem Fall stehen sie für ein Abenteuer, wie es in unserer Zeit nur noch der Fußball bereithält: 7:1 in Offenbach. Unfassbar, aber wahr.

Als ich am frühen Morgen um kurz nach halb fünf in den Spiegel blicke, will ich meine Augen am liebsten gleich wieder schließen und mich schnurstracks zurück ins Bett begeben. Die wenig schlafbringenden Nächte zuvor und besonders der vorhergegangene Abend stehen mir metertief ins Gesicht geschrieben. Am Samstag hatten wir mit unserer Handballmannschaft den Abstieg aus der Kreisliga C besiegelt und diesen gefeiert wie einen Aufstieg in die Regionalliga. Aber da es nicht irgendein Sonntagmorgen ist, ich nicht umsonst nur zwei Stunden gepennt habe, raffe ich mich auf in Dusche, die leider wenig zur Besserung des Zustandes meiner Kopfgegend beiträgt. Es ist ein besonderer Tag – denn kurz vor Toresschluss hat es doch noch geklappt mit dem ersten Auswärtsspiel in der Zweiten Liga.

Meine Freunde Christopher und Nils, zwei meiner sechs Reisekumpanen, räkeln sich noch auf Bett beziehungsweise Boden. Auch ihnen steht die Vorfreude auf eine abenteuerliche Fahrt nach Offenbach nicht gerade ins Gesicht geschrieben. In der Küche packen wir den Reiseproviant ein, den uns Nils’ Mutter fürsorglich bereitgestellt hat: Zwei Käsebrote, eins mit Salami, ein Snickers, ein Hanuta und ein Kaugummi um unsere Fahne wenigstens auf die Größe eines Fähnchens schrumpfen zu lassen.

Da Nils den Bierkonsum am Vorabend freiwillig vorzeitig eingestellt hatte, obliegt ihm bis zum Gladbacher Hauptbahnhof die Rolle des Fahrers. In Boisheim sammeln wir Monti alias Christoph Hubert auf. In Dülken steigt Sebastian zu, besser unter seinem Nachnamen Rötten bekannt. Wenigstens haben wir mittlerweile Mai und es ist um halb sechs bereits hell. Die ersten Sonnenstrahlen und die kühle Morgenluft lindern mein „Unwohlsein“ nur begrenzt, doch die Gedanken an das bevorstehende Spiel am Mittag treiben mich an. Am Hintereingang des Bahnhofs treffen wir auf den Rest unserer Auswärtsbaggage – Simon und Tobias, den ebenfalls jeder nur bei seinem Nachnamen Gotzen nennt.

Auf dem Gleis herrscht in Anbetracht der Uhrzeit bereits reges Treiben. Die Farbe grün dominiert, was vor allen Dingen daran liegt, dass die Bundespolizei ebenfalls einen Ausflug nach Hessen unternimmt und uns freundlicherweise begleitet (Christopher besteht auf die Bezeichnung „Bundespolizei“, ob SEK, GSG-9, Hundertschaft oder einfach schlicht „Polizei“ ist mir eigentlich relativ schnuppe). Das „freundlich“ ist hier übrigens keineswegs ironisch gemeint. Die winterlich eingepackten Damen und Herren in grün, gewappnet mit Schlagstock, Schildkrötenpanzern an den Schienbeinen und schweren Helmen in der Hand, zeigen sich von ihrer netten Seite und behandeln die über den Daumen gepeilten 300 Borussenfans wie normale Menschen, die gesittet ihren Spaß und drei Punkte haben wollen. Das soll von Zeit zu Zeit anders sein. Ich kann es nicht wirklich beurteilen, da die Fahrt nach Offenbach erst mein drittes Auswärtsspiel mit Bus und Bahn ist, also im Kreise der Gesetzeshüter. Bisher habe ich stets den Eindruck gewonnen, dass sie lieb zu dir sind, solange du dich benimmst, wie Mama es dir beigebracht hat.

Und so setzt sich der Tross um 6:10 Uhr in Bewegung. In Neuss ist der erste Umsteigepunkt. Monti, Christopher, Rötten, Gotzen und Simon „genießen“ bereits ihr erstes Bier. Nils will noch nicht und auch ich kann mich um diese Uhrzeit nicht mit einem Konterbier anfreunden. Zumal das spottbillige „Baron Pils“, pfandfrei aus Holland für 8,88 € die Palette, eher wie warmes Kühlwasser aus einem Atomreaktor schmeckt, verfeinert mit einer Prise Metallgeschmack. Wenn „Stiftung Warentest“ irgendwann einmal radioaktive Stoffe in einem Bier entdecken sollte, setze ich jetzt schon einen Zehner darauf, dass „Baron Pils“ der Übeltäter sein wird. Die Reisenden sind derweil bunt gemischt wie die Biersorten, die sie in Kisten und Paletten von Bahnhof zu Bahnhof schleppen – alteingesessene Siebzigerjahre-Fans mit Rauten-Tattoo auf dem Oberarm, Ultras, die nicht mehr so heißen aber trotzdem noch so aussehen, kleine Jungs um die fünfzehn Jahre, die gerne dazu gehören würden, Studenten mit Mischbier in der Hand, ein paar Familienväter mit ihren Söhnen an der Hand und eben wir sieben Abiturienten, auf die keine dieser Beschreibungen zutrifft.

Ein Polizist kommt auf uns zu und will wissen, ob wir – also die Borussia – heute schon aufsteigen können. Leider können wir nur mit „nein“ antworten und uns darüber wundern, dass der Mann in grün seine Hausaufgaben nicht wirklich gemacht hat. Schließlich könnten sich seine Aufgaben ruckartig anders gestalten, wenn auf einmal 5000 Fans den Aufstieg feiern – und nicht nur, wie wir hoffen, einen einfachen Auswärtssieg.

Die nächste Station auf der Zugodyssee gen Offenbach heißt ausgerechnet Köln. Zum Glück treiben sich dort um kurz vor halb sieben noch keine FC-Fans rum. Zeitgleich wird Köln am Nachmittag die TSG Hoffenheim empfangen. Auch von deren Anhängern werden wir wohl kaum einen zu Gesicht bekommen. Eher läuft uns ein Esel in Boca-Juniors-Trikot über den Weg. Simon verlangt vor der Ankunft in Köln nach zwei Tüten für seine Füße, damit er keinen unheiligen Boden betreten muss. Aber der Hüne mit dem leichten Gemüt übersteht den zehnminütigen Aufenthalt in der verbotenen Stadt trotzdem unbeschadet. Rheinaufwärts nähern wir uns Koblenz, der dritten Zweitligastadt an diesem Morgen. Auch die Anhänger der TuS schlummern zu diesem Zeitpunkt noch in ihren Betten. Die Uhr zeigt nicht einmal neun Uhr an, als unsere Bahn nach Mainz abfährt.

Die nächsten anderthalb Stunden machen wir es uns im menschenleeren Fahrradabteil gemütlich. Christopher ringt mit der Müdigkeit und verabschiedet sich kurz ins Land der Träume. Nils liebäugelt um halb zehn in Deutschland mit dem ersten Bier, während Sebastian sich dem halben Dutzend bereits unaufhaltsam nähert. Es ist ruhiger, als man in einem Fußball-Zug vermuten mag, was daran liegt, dass sich ein Großteil der Gefolgschaft in eine kleine Regionalbahn gezwängt hat, die über Limburg nach Frankfurt fährt.

Landschaftlich hat die Fahrt durch die Weinberge entlang des Rheins ebenfalls etwas zu bieten – Fachwerkhäuser, Burgen, grüne Wiesen am Fluss. Manche Bahnhöfe besitzen nicht einmal einen gepflasterten Bahnsteig. In einigen Dörfern sagen sich Fuchs und Hase allem Anschein nach sogar tagsüber „Gute Nacht“. Spay, Boppard-Bad Salzig, Trechtlingshausen, Budenheim – allesamt Orte, deren Boden wir nie in unserem Leben betreten werden, durch die wir aber nun wenigstens einmal mit dem Zug gefahren sind.

In Bingen steigt ein Radfahrer mit südländischen Wurzeln zu, der die mutige Frage stellt, wie hoch Gladbach denn heute verlieren werde. Der Mann hat Glück an die Richtigen geraten zu sein. Andere hätten ihn ohne mit der Wimper zu zucken im Rhein versenkt. Aber nicht nur der Scherzkeks, sondern auch wir selbst haben ja noch keinen blassen Schimmer, was uns heute in fußballerischer Hinsicht erwarten wird. So eine Zugfahrt bietet häufig genügend Gelegenheiten zu ausgiebigen Charakterstudien. Irgendwo hinter Gau-Algesheim steigt ein kurioses Pärchen zu. Er sieht aus wie Jesus in Joggingschuhen. Sie hat dennoch einen dichteren Oberlippenbart als ihr Freund, Lebensabschnittsgefährte, Ehemann, was weiß ich. Ihre Blicke lassen vermuten, dass sie uns für irgendetwas zwischen verrückt und faszinierend halten.

Mein erstes Pils kurz vor der Ankunft in Mainz schmeckt nicht wirklich, lindert jedoch wider Erwarten meine Beschwerden und spätestens jetzt zähle ich sehnsüchtig die Minuten bis zum Anpfiff auf dem Bieberer Berg. In der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt schließen wir eine Palette für die Rückfahrt im Schließfach ein. Auf einmal hängt uns aus unerklärlichen Gründen ein Gladbach-Fan mit pfälzischem Dialekt an, der ungefähr unser Alter haben muss. Er sucht verzweifelt die „Ultras“, die sich ja eigentlich vor ein paar Wochen aufgelöst haben. Was sich unser kleiner Tom Hanks auf der Suche nach dem Heiligen Gral von denen erhofft, bleibt im Raume stehen. Erst in Offenbach werden wir den Mitreisenden los, als er zumindest mir mittlerweile auf den Geist geht. Bevor das Ziel in Offenbach endgültig ins Visier genommen wird, gönnen wir uns bei McDonalds ein Frühstück – drei Cheeseburger, ein Wrap und weiter geht’s.

Im Anschluss habe ich ein großartiges Aha-Erlebnis, als ich zum ersten Mal in meinem Leben zwei Wehen-Fans erblicke und dies mit den Worten „Ich fass’ es nicht. Schaut mal her! Es gibt sie wirklich!“ kundtue. Die beiden Wehener scheinen Ähnliches nicht erst einmal gehört zu haben und lächeln aufrichtig. Sie sind auf dem Weg nach Koblenz und werden nach der 0:2-Niederlage gegen 16 Uhr nicht mehr so fröhlich dreinblicken. Überhaupt herrscht allerorten ein faszinierender Fan-Exodus: Hoffenheimer nach Köln, Wehener nach Koblenz, Augsburger nach Aachen, Gladbacher nach Offenbach und irgendwo dazwischen sogar ein paar verträumte Bayern-Fans, die sich auf die Reise nach Wolfsburg machen. Auswärtsfahrten sind eben ein kleines Abenteuer. Kleine Jungs spielen im Wald Indiana Jones, bauen Höhlen aus Laub – Männer und Frauen ab 14 aufwärts fahren nach Offenbach zum Fußball.

Aus der S-Bahn dürfen wir die Frankfurter Commerzbank-Arena bestaunen. Warum die früher „Waldstadion“ hieß wird selbst Sebastian klar, der stolz sein „achtes oder neuntes Bier“ verkündet. Köln, Koblenz, Mainz, Frankfurt, Offenbach – man kann auf Reisen zu Auswärtsspielen theoretisch jede Stadt dieses Landes bereisen ohne auch nur ein einziges Gebäude außerhalb des örtlichen Hauptbahnhofs genauer zur Kenntnis genommen zu haben. Ich war zuvor noch nie in Mainz, jetzt schon, doch irgendwie auch wieder nicht.´

Genauso wenig bekommt man aus nächster Nähe einen Anhänger der Heimmannschaft zu Gesicht. Vor einer Eckkneipe am Bahnhof Offenbach-Ost stimmt sich ein gutes Dutzend Kickers-Fans auf das Spiel ein, das in weniger als zwei Stunden angepfiffen wird. Doch die Peripherie der Jungs in rot-weiß wird von den Hütern der Ordnung in grün (und blau, wir sind schließlich längst in Hessen) undurchdringbar bewacht. Dabei will den Offenbachern niemand etwas Böses – drei Punkte reichen schon zur Besänftigung.

Es scheint, als habe sich einmal mehr der gesamte Niederrhein aufgemacht und sei mit Bus, Bahn und Auto in den Osten von Frankfurt gereist. Nachbarn aus Anrath und ehemalige Mitschüler säumen den Fußweg zum Stadion. Aus der wartenden Menge vor den Toren des Bieberer Berg winkt mir Luca, mein Sitznachbar aus dem Borussia-Park, von den Schultern seines Vaters zu, der seinen Arm wie ein Ertrinkender in die Höhe reckt, um ein Lebenszeichen von sich zu geben.

Die Szenerie des traditionsreichen Offenbacher Stadions lädt Fußball-Romantiker derweil zum Schwelgen in alten Bökelberg-Zeiten ein. Das Umfeld, der Wald mit seinen Wiesen, auf denen Familien picknicken und bärtige Relikte aus der Hippiezeit ihr Bier trinken, erinnert an ein ritterliches Mittelalterfest. Keine Spur von mächtigen Parkplätzen, ausgeklügelten Anfahrtswegen und erdrückenden Videoleinwänden.

Vor dem Eingang zum Gästeblock stehen keine kostspieligen Ticketautomaten. Freiwillige in chicen neon-orangen Westen reißen Ticket für Ticket ab, während die Kontrollen sorgfältiger sind als sie bei Heimspielen jemals auch nur annähernd waren. An diesem Punkt teilen wir uns – Simon, Christopher und Gotzen haben nämlich Sitzplatzkarten. Wie durch ein Wunder war ich über die Mitgliedskarte meines Bruders und meine eigene zwei Minuten nach Verkaufsbeginn an vier Stehtickets gekommen. Drei Minuten später waren alle bereits vergriffen.

Zu viert erklimmen wir die Stahlrohrtribüne, die ich so nur vom heimischen Schützenfest kenne. Doch diesmal ist sie nicht für Schützenkönige mit Fasanen auf dem Kopf und korpulente Frauen in grellen Kleidern errichtet worden, sondern für weit gereiste Gästefans. Ein Ordner gewährt uns mit dem Hinweis auf die notdürftig vorhandenen Dixie-Klos Einlass und fügt augenzwinkernd hinzu: „Aber bitte nicht umkippen.“ Er meinte selbstverständlich die Toilettenhäuschen.

Die Gästetribüne ist eine halbe Stunde vor Spielbeginn relativ leer. Viele scheinen der warmen Mai-Sonne noch ein wenig entgehen zu wollen oder hängen wahrscheinlich im Strom vor den Toren fest, weshalb wir das kleine Fanvakuum nutzen und uns nicht in Block S1 niederlassen, sondern das Zentrum der Stimmungsverbreitung in W2 aufsuchen. Was wie Schiffe versenken klingt, soll sich später als gute Entscheidung erweisen. Gerade bei Auswärtsspielen ist die Stimmung ein noch größeres Phänomen als daheim, da der Funke innerhalb der Menge nicht allein durch ihre Masse ein Feuer entfachen kann. Es bedarf immer wieder kleinen Schüben, um letztendlich mehr als nur den härtesten Kreis zu animieren. Obwohl sie gar nicht mehr existieren, ergreifen vor allem jene, die sich einst „Ultras“ nannten, zunächst die Initiative. Wir vier stehen irgendwo ein paar Reihen dahinter. Das Spielfeld sehen wir größtenteils nur durch die Fangzäune, andererseits ist das Tor, auf das die Borussia in der zweiten Hälfte spielen wird, fast greifbar nah.

Der Stadionsprecher dudelt vor sich hin. Nicht einmal seine Stammzuhörer aus Offenbach scheint es sonderlich zu interessieren. Dennoch nimmt der Gästeblock seinen waghalsigen Tipp – ein sensationelles 1:0 für die Kickers – lachend zur Kenntnis. Als das Spiel endlich beginnt, sind wir seit fast zehn Stunden auf den Beinen, zehn Stunden, denen auf der Rückfahrt noch einmal sechs folgen werden. Das Spiel plätschert lange vor sich hin. Aus der Ferne sieht das, was die Borussia aufs Feld zaubert, nicht gerade erstligareif aus und die leise gehegten Zweifel der letzten Tage machen sich langsam wieder im Hinterkopf breit. Jeder weiß: Mindestens fünf Punkte und wir sind durch. Doch solange nichts in trockenen Tüchern ist, greift stets die Angst um sich, kurz vor dem Ende alles zu verspielen. Vor unserer Nase passiert jedoch ebenfalls nicht viel, aber immer noch ein Tick mehr als auf der Gegenseite. Zweimal ist Heimeroth gegen den gefährlichen Bancé glänzend auf dem Posten und verhindert das erste Tor, das wenn überhaupt in den ersten zwanzig Minuten der OFC verdient hätte.

Für haargenaue Spielanalysen und Beurteilungen von Schiedsrichterentscheidungen ist der Gästeblock nur begrenzt geeignet. Nach einer knappen halben Stunde rennt Hysky im Strafraum Friend um. Vorsichtshalber sende ich eine SMS nach Hause. Nach ein paar Minuten kommt die Bestätigung. „War das ein Elfer?“, hatte ich gefragt. „Ganz klar“, lautet die Antwort. In der Zwischenzeit hatte Neuville den Strafstoß versenkt. Sicherer als vor einer Woche gegen 1860 München, aber Offenbachs Thier (kein Rechtschreibfehler, der heißt wirklich so) hatte die Ecke immerhin geahnt. Spätestens jetzt herrscht Freudenstimmung im Block, die diese leise Ungewissheit verdrängt, ob die Leistung in den Minuten zuvor die Führung überhaupt rechtfertigt.

Jetzt könnte man denken, das Führungstor würde eine bisher relativ lahme Fohlenelf antreiben und inspirieren. Doch kurz nach Neuvilles vierzehntem Saisontor ist Offenbach dem Ausgleich so nah, dass die Fans in rot-weiß alle schon aufgesprungen sind. Sousas Freistoß streift hauchdünn am Pfosten vorbei und trifft Gott sei Dank die richtige Seite des Netzes. Kurz bevor es in die Pause geht, wirft sich der OFC selbst um Lichtjahre zurück. Neuville lässt Bancé stehen. Der Mann aus Burkina Faso setzt an der Außenlinie zur Sense an – mit Erfolg. Neuville wälzt sich verständlicherweise am Boden. „Dunkelgelb“, schießt es mir durch den Kopf. Schiri Sippel wählt den dunkelsten aller Gelbtöne und zeigt Bancé die rote Karte. „Vertretbar“, wie man immer so schön urteilt.

„Vertretbar“ wird wenige Augenblicke nach Wiederanpfiff zum Wort der Stunde mutieren. Zunächst mache ich mich jedoch auf die Suche nach etwas Ess- beziehungsweise Trinkbarem. Als Sippel fünfzehn Minuten später in seine Pfeife bläst, stehe ich noch immer in der Schlange, mittlerweile immerhin weit vorne. Doch der Durst ist mir ganz schnell egal. Ich geb’s auf und gehe zurück in den Block. Fußball-Romantik muss nicht immer schön sein. Mich juckt es nicht weiter. Doch die Kickers hätten die 2,80€ für meine Cola gut gebrauchen können – für eine neue Anzeigetafel zum Beispiel. Das alte Exemplar aus dem Bremer Weserstadion hat seinen Geist aufgegeben und heißt jetzt „Anzeigentafel“. Wenigstens Humor hat man in Offenbach.

Die Entscheidung für den Durst erweist sich in der 48. Minute als goldrichtig: Ein Offenbacher klärt auf der Linie, der Ball kommt zu Brouwers, der Niederländer muss ihn nur noch per Kopf über die Linie drücken, wird aber von Sichone unfair daran gehindert. Die Überraschung ist groß. Ich muss ehrlich sein: Zur genauen Schilderung der Situation bin ich erst in der Lage, seitdem ich zuhause die Zusammenfassung gesehen habe. Als Sippel erneut die rote Karte aus der Gesäßtasche kramt, ist die Verwirrung perfekt. Hand auf der Linie, Schiedsrichterbeleidigung – jeder will etwas anderes gesehen oder gehört haben. Richtig liegt niemand. Spätestens nachdem Neuville seinen zweiten Elfer sicher verwandelt hat, spielt diese Ungewissheit eine absolut nebensächliche Rolle. Zumal sich ja herausstellt, dass auch diese Entscheidung „vertretbar“ gewesen ist. Es wird ausgelassen gefeiert. Und dann ist er wieder da, der angesagteste Gesang dieser Wochen: „Nie mehr Zweite Liga, nie mehr, nie mehr.“ Goethe, Schiller oder Heine hätten es nicht schöner sagen können.

Kurz darauf erzielt die Borussia das dritte Tor. Brouwers ist nach dem unfair vereitelten Treffer beim Platzverweis für Sichone scheinbar so heiß auf ein Tor, dass er Heimeroth überköpft und ein sehenswertes Eigentor produziert. Wer sich in der wohligen Lage befindet, beim derzeitigen Stand nur noch einen Sieg zum Aufstieg zu benötigen und zudem auf eine doppelte Überzahl bauen kann, nimmt es mit Humor.

Innerhalb weniger Minuten treibt der designierte Aufsteiger aus Mönchengladbach die Gastgeber in den Galgenhumor und ins sportliche Delirium. Zuerst bugsiert Marin den Ball nach einem Abpraller mit viel Übersicht von der Strafraumgrenze ins Tor. Acht Minuten später kommt Touma zu seinem Premierentreffer für die Borussia. Erneut ist er der Nutznießer eines Abprallers, der zu ihm gelangt, nachdem der eingewechselte Colautti noch an Thier gescheitert war. 4:1 aus Sicht der Borussia hatte ich getippt. Nach einer guten Stunde ist Vision Wirklichkeit geworden. Irgendwie ahne ich bereits, dass dies viel zu früh geschieht, um am Ende als Tippkönig dazustehen. Mittlerweile hat sich ein Großteil des Gästeblocks bei den sommerlich anmutenden Temperaturen seiner Oberteile entledigt. Noch bestehe ich auf meine doppeltes Glückstrikot, will schließlich nicht Schuld auf mich nehmen, wenn am Ende ein 4:4 zu Buche steht.

Um die 70. Minute herum (auch das musste ich nachgucken, man verliert im Rausch des Kantersieges jegliches Zeitgefühl) verlässt Colautti den Platz. Luhukay hatte neben dem Israeli bereits Coulibaly und Ndjeng ins Spiel gebracht, weshalb die Borussia zu zehnt weiter spielen muss. Man könnte meinen, sie hätte Mitleid mit den neun vollkommen hilflosen und desorientierten Offenbachern.

Doch die verminderte Überzahl tut dem Rausch, in den sich Gladbach längst gespielt hat, keinen Abbruch. Ndjeng trifft als Joker zum 5:1. Neuville hatte ihn sensationell auf dem Boden liegend angespielt. Als Coulibaly vier Minuten danach mit dem Kopf (!) nach Flanke von Levels (!) das halbe Dutzend voll macht, erkenne ich dies als Zeichen für vollkommene Unbesiegbarkeit an und lege mir meine beiden Trikots samt Schal über die Schultern – sonnenbrandtechnisch ohnehin keine schlechte Maßnahme. Die Fans des OFC feiern sich derweil selbst, wir feiern unsere Mannschaft – neun Offenbacher auf dem Feld sind zehn Minuten vor Schluss also die einzigen, die bei 25 Grad keinen Spaß haben.

Ndjengs 7:1 wird mit einem Anflug von Erschöpfung wahrgenommen. Wie bei einem 23:18 beim Handball werden schnell die Hände in die Luft gereckt. Mehr ist nicht mehr drin – die Ungläubigkeit lähmt uns geradezu. Nach dem sechsten Tor hatte jemand „nur noch vier“ angestimmt. Es wird nichts mehr mit der Zweistelligkeit. Dennoch steht am Ende der höchste Auswärtssieg seit 21 Jahren zu Buche. Offenbach kassiert die höchste Heimpleite aller Zeiten und mehr als 5000 Borussenfans haben das geilste Auswärtsspiel ihres Lebens hinter sich. Ich bin eigentlich kein Fan des Wortes „geil“, aber ab einem gewissen Punkt wirken „schön“ und „toll“ einfach unglaubwürdig und tiefstaplerisch.

Kopfschütteln gehört nach dem Spiel neben lauten Jubelfeiern zur meistgesehen Tätigkeit. Niemand kann so richtig glauben, was er gesehen hat. Die Frage nach den Torschützen in richtiger Reihenfolge erweist sich als schwerste Prüfung des Tages. „Am Mittwoch steigen wir auf, olé, olé“ mutiert zum Gassenhauer des Abends. Mit erschreckender Leichtigkeit hat die Borussia den Gastgeber in der zweiten Hälfte aus dem Stadion geschossen. Die Noten, die der Kicker jeden Montag vergibt, unterstreichen eindrucksvoll die Kuriosität des Spiels. Sieben Tore, ein Eigentor und trotzdem kommen die dreizehn benoteten Borussen im Schnitt nur auf eine 2,7. Zum Vergleich: Als Bremen letztes Jahr in der Bundesliga Mainz mit 6:1 degradierte, regnete es im Schnitt glatt die Note „gut“ für die elf Akteure. Fünf verschiedene Torschützen, fünf verschiedene Vorlagengeber, drei Jokertore – vielleicht unterstreicht das Zustandekommen des Kantersieges einfach nur die Homogenität der Gladbacher Mannschaft.

Die Kopfschmerzen der Hinfahrt sind auf dem Rückweg vergessen. Die leisen Zweifel müssen sich der Vorfreude auf eine Aufstiegsfeier am Mittwoch gegen Wehen beugen. Sogar das „Baron Pils“ schmeckt jetzt wie edelster Champagner. In Mainz holen wir die letzte Palette aus dem Schließfach. Bei McDonalds gibt es Abendessen: Drei Cheeseburger und einen Wrap – die Kombination könnte zum Ritual werden. Meine Figur wird es mir irgendwann danken. Während wir auf dem Bahnsteig auf den Zug nach Koblenz warten, gratuliert uns ein Mainzer leise zum Sieg und eilt sofort weiter. Fast jeder, der die Frage „Und, wie habt ihr gespielt?“ stellt, erhält die standesgemäße Antwort und erklärt uns durch die Bank für verrückt. Entschuldigung, aber es ist die Wahrheit. Auch ein KSC-Fan aus Koblenz glaubt uns erst nicht so recht, redet uns dann aber auf badisch solange ein Kotelett an die Backen, bis wir schon den Grill rausholen wollen. Vor allen Dingen versteht ihn kein Mensch, aber ihm scheint das schnuppe zu sein. Der Rest des Waggons bekommt derweil die Seiten 12-16 aus dem Gesangsbuch zum Besten gegeben und ist eigentlich zu bemitleiden. Dabei strengen wir uns extra an. In Freudentaumel fällt das auch nicht allzu schwer, obwohl der lange Tag mittlerweile an allen nagt.

Nachdem wir mit den ersten Sonnenstrahlen aufgebrochen waren, ist es längst dunkel, als ich um halb elf alleine auf Gleis 3 am Mönchengladbacher Bahnhof sitze. Die anderen sind bereits auf dem Nachhauseweg, ich habe noch ein paar Minuten, um dieses Abenteuer Revue passieren zu lassen. Mehr als 16 Stunden bin ich auf den Beinen. Das Spiel macht nicht einmal ein Zehntel davon aus. Noch im letzten Jahr hätte ich wohl resigniert dort gesessen, nach einen 0:1 auf Schalke oder einem 0:2 in Bochum. Doch dieses Jahr ist alles anders: Wir sind die Nummer eins und die anderen freuen sich, gegen uns spielen zu dürfen. Noch drei Teams obliegt bis zum Saisonende die Ehre. Doch kein Borusse wird vorhaben, vor lauter Wehmut Abschiedsgeschenke zu machen. Noch drei Punkte, dann ist das Ende des Abenteuers Unterhaus besiegelt. Mit 86 Jahren werden wir im Altenheim sitzen und über alte Zeiten philosophieren. Egal, was in den 67 Jahren bis dahin noch passiert: Das 7:1 in Offenbach wird in unseren Erzählungen einen Ehrenplatz erhalten. Zum Schluss muss ich es noch einmal sagen, weil es so schön ist: 7:1! Ok, noch einmal, dann ist Schluss: 7:1!


Zusammenfassung bei Hattrick im DSF (Teil 1)


Zusammenfassung bei Hattrick im DSF (Teil 2)