Sonntag, 15. Februar 2009

Mission 40/20: Mehr Bailly als Verstand

Gladbach holt in Bremen einen Punkt und wird sich noch lange fragen, wie das nur passieren konnte. Warum Rolf Zuckowski es diesmal ernst meint, Deo-Roller nur bedingt zum Telefonieren taugen und Logan Bailly nicht allein für einen sauberen Kasten, sondern für SED-Verhältnisse im Internet sorgt.

Halbzeit in Krefeld. Der TV Boisheim liegt gegen die Gastgeber aus Oppum mit 8:9 im Hintertreffen. Vierzehn Handballer zwischen 19 und 52 Jahren schleppen sich japsend zur Bank, während die geschätzten 18 Zuschauer sich auf eine schnelle Pausen-Kippe nach draußen verziehen. Auch in der Kreisliga D herrscht in Sporthallen striktes Rauchverbot, selbst in kargen Gebäuden wie der Halle an der Schmiedestraße, gegen die jedes halbwegs in Schuss gehaltene Gefängnis noch einladend wirkt.

Plötzlich stiehlt sich der Spieler mit der Nummer 9 unbemerkt davon. Erst wühlt er ein paar Sekunden lang scheinbar desorientiert in seiner Tasche, dann zückt er ein kleines, schwarzes Handy und legt beim Entriegeln der Tastensperre eben jene Schnelligkeit an den Tag, von der in den dreißig Spielminuten zuvor rein gar nichts zu sehen war. „Mama“ hat geschrieben, um 16 Uhr 12 und 34 Sekunden. „Meyer merkt nach 40 Minuten, dass man nur mit einem Tor gewinnen kann und nimmt Jantschke raus. Olli kommt“, vermeldet der heimische Ergebnisdienst von der Wohnzimmercouch die Neuigkeiten aus Bremen. Zur Pause steht es 0:0.

Schon dreizehn Minuten zuvor hatte es geheißen: „Bisher ermauern wir uns einen Punkt – ohne Marin, mit Colautti, Jantschke und viel, viel Glück“. Um sieben nach vier, nach einer guten halben Stunde im Weserstadion, dann ein erster Hinweis auf den Hauptdarsteller eines merkwürdigen Fußballspiels: „Ohne Bailly könnten wir schon nach Hause fahren“. Wohl dem, der eine Mutter hat, die man nicht vor den Fernseher zerren und mit Instruktionen über die Funktionsweise eines Premiere-Decoders versorgen muss. Im Gegenteil.

Klingt irgendwie nach einer schnulzigen Hommage aus einem Rolf-Zuckowski-Lied (‚Wenn ihr so eine Mami habt, dann nehmt sie in den Arm…‘), spiegelt aber aufrichtige Dankbarkeit gegenüber meiner temperamentvollen Sitznachbarin aus dem Stadion wider, ohne die ich sicherlich nie so verrückt geworden wäre, sonntagabends nach Rouladen mit Sauerkraut seitenlange Abhandlungen über die Spiele meiner, ihrer und unserer Borussia zu verfassen.

Immerhin wären die ersten Absätze dieses Textes ohne sie nie zustande gekommen (die folgenden im Prinzip auch nicht). Und ausführliche Beschreibungen der zweiten Halbzeit aus der Gefängnishalle in Krefeld-Oppum will nun wirklich niemand lesen. Auch wenn der TV Boisheim trotz seines motorisch wenig begabten Linkshänders im rechten Rückraum das Spiel mit 21:19 für sich entscheiden und damit auf einen vorderen Mittelfeldplatz springen wird – als Dritter von sieben.

Es ist durchaus als positives Zeichen zu werten, dass der besagte Spieler mit der Nummer 9 keine weitere SMS auf seinem Handy vorfindet, als er ein paar Minuten vor Schluss völlig entkräftet den Platz verlässt und erneut in seiner Tasche kramt. Um 16:47 Uhr ist das Festival des feinen Kreisligahandballs vorbei. An der Weser nichts Neues.

In der Kabine vibriert es erst wieder um 17:01 Uhr. Die Nummer 9 kommt gerade vom Duschen und zeigt sich erleichtert über die anhaltende Torlosigkeit im hohen Norden. Die Idee vom mit Klebeband am Körper befestigten Mini-Radio war relativ schnell verworfen worden. Ein wenig Schwitzen war ja doch nicht verkehrt, worüber sich das Radio nicht allzu sehr gefreut hätte.

Bremen hat laut Ergebnisdienst mittlerweile 20:3 Torschüsse und nähert sich auch beim Eckenverhältnis unaufhaltsam der Dreistelligkeit. Nur zwei Minuten später heißt es erneut „Sie haben Post“ und diesmal kippt unser Hauptdarsteller beinahe aus den Adiletten. Zwei Zahlen, getrennt durch ein Leerzeichen, erscheinen auf dem Bildschirm. Alleine die Reihenfolge sorgt für Entsetzen: „1 0“. Es musste ja so kommen. Nach 67 Minuten in Stuttgart dürfte das antike Bollwerk um Mittelläufer Galasek diesmal bis eine Viertelstunde vor dem Ende standgehalten haben. Das Zu-Null in der Fremde lässt demnach noch mindestens zwei Gastspiele oder auch 82+8+90 Minuten auf sich warten.

In Bremen scheint die Partie um 17 Uhr also gelaufen zu sein. Bei bislang drei Torschüssen wird wohl kaum der vierte zum postwendenden Ausgleich führen. Doch nur weitere zwei Minuten später vibriert es erneut in der ominösen Sporttasche. Die Nummer 9 sucht zunächst völlig entgeistert die grüne Taste und merkt erst nach wenigen Sekunden, dass sie den Deo-Roller in der Hand hält. Aber der Griff zum kleinen Schwarzen erfolgt gerade noch rechtzeitig, um die frohe Botschaft in Kabine und Dusche zu verbreiten: „Bradley, Brust, Ausgleich“. Selten war ein Trikolon so wohltuend. Die Fernsehbilder am Abend lassen den Konservatismus dreimal hochleben. Denn zum Glück ist Bradley Brustwarze nicht gepierct – der Ball wäre unter Umständen vorbei gegangen.

Noch acht Minuten sind im Weserstadion zu spielen, als die Nummer 9 im Auto Platz nimmt und sich der Schlusskonferenz auf WDR 2 widmet – mit der Gewissheit, erstmals seit September 2006, erstmals seit 83 Ligaspielen weder im Stadion noch vor dem Fernseher sitzen zu können. Nicht einmal für wenige Sekunden. Seinerzeit hatte der Ergebnisdienst die Botschaft von einer 2:4-Pleite in Aachen überbracht – in der Berliner S1, irgendwo zwischen Potsdamer Platz und Friedrichstraße.

Wenige Augenblicke vor dem Schlusspfiff taucht Steve Gohouri – angeblich – frei vor dem Tor von Tim Wiese auf. So richtig will ich es dem Mann im Radio nicht abnehmen. Selten habe ich mich so blind und hilflos gefühlt. Die offizielle Kunde vom endgültigen Abpfiff gibt es erst nach ein bisschen WDR-Weichspülmusik, als Sven Pistor die Ergebnisse verliest. Ein Punkt in Bremen – allem Anschein nach mit mehr Bailly als Verstand. Selbst ohne herausragende Reflexe wäre es bemerkenswert, sich gleich im Dutzend anschießen zu lassen. Doch Gladbachs neuer Keeper hat eine Leistung auf den Rasen gezaubert, für die sogar Hans Meyer das Prädikat „Weltklasse“ zückt.

Zur Sicherheit kann man die titanische Leistung des Belgiers auf der Borussia-Homepage noch offiziell absegnen. Die Frage nach dem besten Defensivspieler gegen Bremen beantworteten bis Sonntag, 20:25 Uhr, genau 13471 Besucher mit „Logan Bailly“. Die anderen drei Kandidaten kommen zusammen auf 426 Stimmen – SED-Verhältnisse mit der Glaubwürdigkeit eines notariell geprüften Lügendetektors. Den Hochrechnungen zufolge schwankte Baillys Stimmanteil zwischen 97,0 und 98,7 Prozent und hat sich mittlerweile bei ordentlichen 97,4 eingependelt. Steve Gohouri, derzeit Zweitplatzierter, plant dennoch eine millionenschwere Kampagne, um bis Donnerstag 20.000 Stimmen zu sammeln.

Bochums Sieg gegen Schalke und Karlsruhes Punktgewinn in Köln dämpfen die Freude über den geschenkten Auswärtszähler jedoch gehörig. Das 1:1 hat somit den Wert eines Brotlaibs für einen Ausgehungerten: Zum Sterben zu viel, zum Überleben zu wenig.

Auf Premiere lässt man zunächst in aller Seelenruhe die fünf anderen Partien Revue passieren, bevor das Gastspiel der Ausgehungerten bei den Durstigen auf dem Programm steht. Man munkelt, es sei im Ü-Wagen vor dem Weserstadion zu mehreren Kollapsen beim Schnitt der Zusammenfassung gekommen sein. Gut Ding will Weile haben. Doch sowohl dem Pay-TV als auch der Sportschau gelingt es nicht annähernd, das Duell „Bailly gegen den Rest der Welt“ greifbar zu machen.

Erst eine Art Schnelldurchlauf des Bremer Torchancentaifuns im Sportstudio lässt erahnen, was die Borussia sich in der Winterpause für einen Teufelskerl geangelt hat. Fans aus Genk werden demnächst die ganze Südkurve des Borussia-Parks annektieren, um die Wundertaten Baillys weiterhin zu bestaunen. Bleibt die Frage, ob sich zu sehr ausgeprägte Reflexe nicht nachteilig auf die Gesundheit auswirken können?

Am Sonntag gelingt es Bielefeld (bzw. Hamburg) wenigstens halbwegs, den Spieltag aus Borussensicht noch zum Guten zu wenden – trotz eines Punktgewinns in Bremen aus dem heitersten aller heiteren Himmel fällt das ziemlich schwer. Denn das Unentschieden von Cottbus in Dortmund vergrößert die Lücke zum Tabellensiebzehnten zeitgleich auf vier Zähler. Optimistisch stimmt es, dass Platz 17, 16 und 15 gleich weit weg sind. Dennoch verdunkelt sich der Himmel am Niederrhein von Spieltag zu Spieltag. Zwei Zähler zum rettenden Ufer haben sich in drei Spielen verdoppelt. Aus Punktgleichheit mit dem Siebzehnten ist ein Rückstand von vier Punkten geworden.

Jetzt kommt mit Hannover 96 eine Mannschaft in den Borussia-Park, die in dieser Saison eine Auswärtsseuche am Fuß hat, von der selbst der VfL in „besten“ Tagen nur hätte träumen können: ein Punkt, 4:24 Tore – was den Druck auf den gebeutelten Fohlenschultern nicht unbedingt in Luft auflöst. Für die Borussia geht es am Nelkensamstag um mehr als nur drei Zähler. Gefühlte zwölf stehen auf dem Spiel. Dazu lockt die Aussicht, mit Hannover einen weiteren Verein in unmittelbare Abstiegssorgen zu stürzen.

Auf das Trikot als Schlafanzugersatz werde ich nächsten Freitag getrost verzichten. Gegen Hoffenheim und Bremen brachte die kleine Reform des Aberglaubens jeweils ein 1:1. Und das würde gegen Hannover den Anfang vom Ende bedeuten. Samstag geht es schon fast um alles – am 21. Spieltag.

2 Kommentare:

  1. Sei froh, dass du es nicht live hast miterleben müssen, es hätte dich um Jahre altern lassen.

    BG,MK

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  2. Borussiatechnisch bin ich sowieso längst jenseits der 80. Der Sprung von 80 auf 85 ist dann auch nicht mehr so gravierend;)

    Aber ganz ehrlich - ich fühl' mich deswegen heute wirklich besser. Der Anblick des Chancenverhältnisses von 21:3 heute Mittag im Kicker hat mich dann nachträglich trotzdem noch leiden lassen.

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