Freitag, 26. Dezember 2008

2008x12 – Juni

Entscheidend is auf’m Platzhirsch des Monats:
Oliver PocherDavidOdonkorSpanien


So. Weihnachtspäuschen beendet, zurück geht’s in die Zeitmaschine, die uns heute in einen Monat des Jahres 2008 führt, den man getrost mit zwei Buchstaben umschreiben kann: EM. Wer mitgezählt und -gedacht hat, wird schlussfolgern: Es ist Juni.

In 45 Akten im Tagebuch-Format ging es zumindest im Geiste täglich nach Österreich und in die Schweiz. Die erste Juniwoche lieferte das übliche Geplänkel vor einem großen Turnier: Stadien hier, Public-Viewing-Vorbereitungen da, Provokationen überall. Letzteren verschaffte das polnische Boulevardblatt „Super Express“ kurz vor dem Auftaktspiel der deutschen Mannschaft einen Höhepunkt: Polen-Coach Beenhakker posierte dank eines wahren Photoshop-Geniestreiches mit den Köpfen von Jogi Löw und Michael Ballack auf der Titelseite. Östlich der Oder schaukelte man sich genüsslich am Sieg der polnisch-litauischen Armee gegen deutsche Kreuzritter in der Schlacht bei Grunwald hoch.

Während unser erster Gruppengegner dafür 598 Jahre zurückblicken musste, genügte uns ein kleiner Hinweis auf einen bedeutenden Sieg am 14. Juni 2006 nahe Lüdenscheid. Die Feldherren Neuville und Odonkor sind noch heute berüchtigt. Vor allem Letzterer zauberte im Vorfeld die eine oder andere Schweißperle auf die polnische Journalisten-Stirn, als Jogi Löw in der Pressekonferenz den rechten Flügelflitzer anpries, als habe Pelé im Jungbrunnen gebadet und sich einen deutschen Schäferhund zugelegt. Womit Anfang Juni auch die Frage geklärt worden wäre, was zur Hölle David Odonkor im EM-Aufgebot zu suchen hatte.

Das Eröffnungsspiel erlebte ich im Kreise von volltrunkenen Jung-Handballern in einer verwaisten holländischen Kneipe. Während Sverkos zum 1:0 traf, hatte ich beim „Bier wegbringen“ so meine Probleme mit der Zielsicherheit. Deutschlands 2:0 dank des Jubel-Asketen Lukas Podolski erlebte ich am Tag darauf bei einer Hühnersuppe auf der Wohnzimmercouch. Dennoch war der Auftakt vollends geglückt.

Obwohl Fußball bekanntlich „Keine Mathematik“ ist, schien der Europameister bereits am 10. Juni gekürt. Der provisorische Sieger hieß Spanien. Was noch ganz verlockend klingt, bis man hört, dass dieser kühne Tipp sowohl den Holländern als auch den Portugiesen einen Platz im Halbfinale beschert hätte.

Griechenland zählte derweil schon nach einem Spieltag nicht einmal mehr zum weitesten aller erweiterten Favoritenkreise. Ganz im Gegenteil litten Ottos Helenen am unheilbaren Unterhaching-Syndrom und konnten froh sein, dass es beim Fußball – anders als beim Eishockey – keine Auf- und Abstiegsregelung für Nationalmannschaften gibt.

Als vor der EM noch einmal daran erinnert worden war, dass es im Fall der Fälle bereits in der Vorrunde zum Elfmeterschießen könnte, hatte ich zynisch gejuxt. Vor dem abschließenden Spiel zwischen Tschechien und der Türkei in Gruppe A lagen beide Mannschaften jedoch sowohl punkt- als auch torgleich im Rennen und stritten im direkten Duell um den Einzug ins Viertelfinale. Ein Unentschieden nach 90 Minuten hätte eine Entscheidung übers Weiterkommen vom Elfmeterpunkt bedeutet. Doch die Türken blieben sich treu und verhinderten das Novum in fast 50 Jahren EM-Geschichte durch Nihats Treffer eine Minute vor dem Ende.

Die „Apokalypse mit Abstrichen“, die der deutschen Mannschaft beim 1:2 gegen Kroatien widerfuhr, trieb mich in die Konjunktivitis, weil ich feststellen musste, dass Österreichs Last-Minute-Elfer uns die letzten Chancen auf den Gruppensieg geraubt hatte. Ein paar Stunden zuvor hatte ich nervöses Stück Mensch sogar kurzzeitig einen Putzfimmel bekommen. Nicht einmal das half letztendlich.

Im Krefelder Morgengrauen gab ein türkischstämmiger Taxifahrer unverblümt zu, von den leidigen Hupkonzerten nach fußballerischen Erfolgen im Grunde auch nicht viel zu halten. Geglaubt hat’s ihm niemand. Überhaupt durfte er für seine Mannschaft nach der Gruppenphase ja auch nur noch einmal hupen. Wollen wir ihm den Spaß doch lassen. Gleichzeitig bereitete mir eine einfach nicht schwächeln wollende spanische Mannschaft so meine Sorgen. Noch nicht eine Minute hatte ich von einem Spiel des Europameisters in spe gesehen und sagte dennoch in Berufung auf ein ungeschriebenes Gesetz großer Fußballturniere: „Ich bin immer noch davon überzeugt, dass zwangsläufig wieder ein böses Erwachen auf die Spanier wartet.“ Wie war das mit den Visionen, Herr Schmidt?

Beim 1:0 gegen Österreich (Ballack-Freistoß, Trainerpossen, Mario „Frank Mill“ Gomez) war Philipp Lahm bester Deutscher, hatte jedoch ein offenkundiges Problem mit Schizophrenie. Und nach einer Vorrunde, die verheißungsvoll begann, zwischendurch apokalyptische Züge annahm und dann in typisch deutscher Am-Ende-gewinnen-wir-immer-Manier gerettet wurde, musste man sich doch fragen, ob uns das Losglück am 2. Dezember 2007 wirklich so treu geblieben war.

Bevor uns das Viertelfinale gegen Portugal in Ekstase versetzen durfte, gehörte die Aufmerksamkeit für kurze Zeit dem Trio Löw-Hickersberger-Skomina. Der Dritte im Bunde machte sich einen Namen, als er die beiden zuerst genannten gemeinsam auf die Tribüne verbannte, weil sie – so oder so ähnlich muss es gewesen sein – schlichtweg zu laut geatmet hatten. Weshalb dieser Zwischenfall prompt einen kleinen soziologischen Einschub über „Neongelbe Wichtigtuer“ mit Pfeife im Mund anregte.

Immerhin durfte ich dann sogar noch Spaniens B-Elf 23 Minuten lang dabei zusehen, wie sie Griechenland ausbeutete. Zeitgleich erregte nicht die Wade, sondern ausnahmsweise die „Rippe der Nation“ die deutschen Gemüter. Torsten „Rosinante“ Frings fiel definitiv aus fürs Viertelfinale, was Simon Rolfes den Sebastian-Kehl-Status einbrachte. Anders als bei dessen Auftritt im WM-Halbfinale 2006 ging’s jedoch gut aus.

Es gab die „Kehrtwende ins Glück“ dank eines 3:2-Sieges gegen favorisierte und vor allen Dingen stark geredete Portugiesen. Schweinsteiger, Ballack und Co. überrumpelten nicht nur ihren Gegner, sondern auch Millionen vor dem Fernseher. Und mal ganz ehrlich: Die beiden Gegentoren haben wir doch nur zugelassen, um den Verkauf der Highlight-DVDs anzukurbeln. Die Glückwunsch-Telegramme schwappten in der Folge sogar aus den USA ins Haus und Europa bemühte wieder die alte Leier von den Deutschen, die immer gewinnen, wenn 22 Spieler 90 Minuten lang einem Ball nachjagen. Diesmal war es nicht einmal gerechtfertigt – im Halbfinale gegen die Türkei dann jedoch mehr denn je.

Bevor Spanien im Viertelfinale Italien erwartete, hatte in den drei K.o.-Spielen zuvor jeweils der antretende Gruppensieger die Segel streichen müssen. Laut Statistik ziehen die in 43% aller ersten K.o.-Runden den Kürzeren. Der spätere Europameister machte es jedoch besser – auch wenn der knappe Sieg gegen sich selbst karikarierende Italiener meinen Glauben an einen spanischen EM-Erfolg nur wenig stärkte.

Ab dem 23. Juni sah Europa erst einmal zwei fußballfreien Tagen ins Gesicht. Selbst eine Putzaktion war als willkommene Beschäftigungstherapie nicht in Sicht. Die Vorbereitung aufs Türkei-Spiel fiel aufgrund diverser „krampfhafter Zeichen“ und einem behüteten „Hühnerei“ jedoch ziemlich intensiv aus. Dabei waren unsere türkischstämmigen Mitbürger längst auf dem Weg in die Heimat – zumindest in NRW hatten die Sommerferien begonnen.

Dass es das Halbfinale vielmehr aus übertragungstechnischer als aus sportlicher Sicht in jeden Jahresrückblick schaffte, der etwas auf sich hält, konnte da noch niemand ahnen. Hinterher war nirgendwo mehr von Völkerverständigung die Rede – zumindest nicht in Bezug auf die deutsch-türkischen Beziehungen. Letztendlich war es nämlich die Liebe zur Schweiz, die am 25. Juni eine nie erwartete Auffrischung erhielt. Das „gallische Dorf“ rettete mit seiner Leitung die Fernsehübertragung und erlöste Béla Réthy vom Manni-Breuckmann-Ähnlichkeitswettbewerb. Nicht nur sportlich hatten wir an jenem Abend also „den Papst in der Tasche“.

Fürs Finale schürte allein Gary Lineker aus deutscher Sicht ein wenig Hoffnung. Ballacks Wade war wieder in aller Munde, Spanien schien unbesiegbar und dann machte uns auch noch die Statistik einen Strich durch die Rechnung. Seine „ungeraden“ EM-Endspiele hat Deutschland allesamt gewonnen, die „geraden“ gingen verloren. Das Finale gegen Spanien sollte das sechste sein.

So wie es kommen musste, kam es dann auch: Lahm und Lehmann ließen sich kurz von Torres düpieren, schon lag die deutsche Mannschaft geschlagen am Boden. All die zerkauten Fingernägel aus den Stunden vor dem Spiel waren vergeudet. Im Laufe der 90 Minuten war es nämlich eher frustrierend als spannend. Doch wie soll man auch ein EM-Endspiel gewinnen, wenn sich der geflockte Name des Kapitäns auf dem Deutschland-Trikot am Finaltag in Luft auflöst?

So wie die EM aus deutscher Sicht auf dem Platz endete, fand sie auch daneben ein Ende. Pocher, Podolski und Papptafeln schrieben am Brandenburger Tor ein unfassbar peinliches Kapitel deutscher Länderspielgeschichte – mit „Humba“, Rechtschreibfehlern und Johannes B. Kerner. Hätte nur noch gefehlt, dass 100.000 Teenies „So seh’n Verlierer aus“ kreischen. Der letzte Eindruck von einer EM bleibt. Das fand übrigens auch Michael Ballack und schlitterte nach der Endspielpleite gerade so an einer handfesten Auseinandersetzung mit Oliver Bierhoff vorbei. Ausgerechnet Kevin Kuranyi schlichtete – viele sagen, seine beste Aktion im Dress der Nationalmannschaft. Und so passt es am Ende wohl auch wie die Faust aufs Auge, Günter Netzer aus einem Interview mit dem SPIEGEL zu zitieren: „Sieger können feiern, Verlierer sollten sich fragen, warum sie verloren haben“.

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